Der Aktionismus half, die Lehre im Corona-Semester sicherzustellen. Es wurde viel experimentiert, was durchaus ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung neuer Konzepte ist. Allerdings war es ein Reallabor und keine, wie sonst üblich, sorgfältig geplante und gestaltete Lernumgebung. Die Botschaft, die nun zu hören ist, lautet: Die Hochschulen können Digitalisierung! Zumindest aus Sicht der dafür notwendigen Technologien und Infrastrukturen. Bei den didaktischen Konzepten sieht es anders aus. So äußern sich auch Studierende mehrheitlich skeptisch im Hinblick auf ein weiteres digitales Semester. Zu divers waren die Eindrücke aus dem letzten Semester und die Erwartung, dass Lehrende in Crashkursen über den Sommer die notwendigen digitalen Kompetenzen erwarben, ist auch eher niedrig.
Ein Ausweg aus dieser Misere sind sogenannte Blended-Learning- oder hybride Kurse. Damit soll das Beste aus beiden Welten auf fruchtbare Weise verknüpft werden. Aus der digitalen Welt die Flexibilität und Freiheit, zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort lernen zu können, und aus der analogen Welt die direkten Kontakte im Seminar, in der Bibliothek und im Café, durch die Studierende sich zu Persönlichkeiten entwickeln. Blended Learning ist ein mittlerweile in weiten Teilen der Welt etabliertes sowie gut beforschtes Konzept und so weiß man auch, welche Faktoren erfolgskritisch sind. Während in der Theorie Blended Learning mehr oder weniger selbsterklärend ist (es braucht „nur“ einen Mix aus Online- und Präsenzformaten in einem Kurs), stellt es sich in der Praxis deutlich komplizierter dar. So ist es etwa notwendig, das bestehende Curriculum kritisch unter die Lupe zu nehmen und den Anforderungen des Blended Learnings entsprechend umzugestalten. Nur eine digitale Komponente, etwa in Form eines LMS oder einer Onlineprüfung, hinzuzufügen, reicht nicht. Wichtig ist weiterhin eine leistungsfähige Infrastruktur, die auf die Bedingungen des verteilten Lernens abgestimmt ist.
Man kann sich das wie ein digitales Ökosystem vorstellen: ein gut bestellter Garten mit einem reichhaltigen Angebot. In diesem Bild wäre die Hochschule der Gärtner und bietet wie im Beispiel der Duke University in den USA eine Vielzahl an digitalen Werkzeugen für die Organisation der Lehre. Es ist nicht mehr ein monolithisches LMS, sondern ein Ökosystem an eigenständigen Tools wie Slack oder Google Docs für das Lernen und Arbeiten im Netz. Wichtig ist dabei, zu verstehen, dass es sich bei den Technologien nicht um fertige „Enterprise-Lösungen“ handelt, da diese oftmals ein problematisches pädagogisches Verständnis haben. Stattdessen sind die Werkzeuge immer im Zusammenhang mit den jeweiligen Lernzielen zu sehen und im Kontext didaktisch fundierter Planungen. Schließlich erfordert ein konsequenter Blended-Learning-Ansatz auch neue institutionelle Richtlinien, um beispielsweise den Anteil digitaler Lehre entsprechend anzurechnen.
Hier sind viele Ansatzpunkte als „Food for Thought“ für die deutschen Hochschulen, ich sehe aber auch Gefahren. Zum einen, dass die Digitalisierung weiter maßgeblich auf der Nischen-Ebene der Innovation abläuft, ohne das Geschäft der Lehre ausreichend irritieren und damit verändern zu können. Zum anderen, dass durch Digitalisierungsstrategien und militärisch anmutende Positionen („Chief Digital Officer“) der Eindruck einer unausweichlichen Naturgesetzlichkeit mit wenig individuellem Gestaltungsspielraum entsteht. Aus der Praxis des Corona-Semesters konnten wir lernen, dass es mindestens noch eine dritte Möglichkeit gibt.