Lernorte

Was von Covid-19 für die digitale Bildung übrig bleibt

Professorin im Home-Office
Foto: iStock/Drazen_
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Digitales Tagebuch des Dr. D.: Vierzehnter Eintrag, Oktober 2020

Nachdem ich mich im März und im Juni schon mit den unmittelbaren Folgen von Covid-19 auf die digitale Bildung auseinandergesetzt habe, versuche ich in dieser Ausgabe eine vorsichtige Bilanz zu ziehen. Während des ersten Corona-Semesters gab es an Hochschulen viele Befragungen und Erhebungen, die nun nach und nach veröffentlicht werden. Ich habe auch an einer Studie zu den Auswirkungen auf die Digitalisierung der Hochschulbildung gearbeitet (darüber habe ich beim University:FutureFestival des Hochschulforums Digitalisierung (HFD) am 07.10.2020 berichtet).

Mir erscheint es wichtig, die Ergebnisse der Befragungen und Studien differenziert zu betrachten. Dazu gehört etwa, sie in den Kontext der bisherigen Entwicklungen des Einsatzes von Bildungstechnologien in Vorlesung und Seminar zu stellen. E-Learning an und in Hochschulen ist ein Thema, das seit mehr als 20 Jahren diskutiert und erforscht wird. Wenn man sich bewusst macht, wie schleppend und zögerlich die Verbreitung bisher angegangen wurde und dass es im Wesentlichen nur wenige Pioniere waren, die digitale Innovationen in der Lehre vorangetrieben haben, dann erschließt sich der tiefere Sinn von Aussagen wie: Die Hauruck-Digitalisierung ist erstaunlich gut gelungen. Die Erwartungen, dass es nicht so reibungslos laufen würde, waren durch prägende Erfahrungen aus der Geschichte des E-Learnings eher hoch. Über viele Jahre wurde E-Learning in Form einer Geschichte des Einsparens von Kosten und der Verbesserung/Optimierung des Lernens durch Flexibilität (Zeit- und Ortsunabhängigkeit) und durch Personalisierung (mit E-Learning lässt sich besser auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen eingehen) erzählt. So hoch die Versprechungen waren, so gemischt fielen die Reaktionen aus. 

Tatsächlich hat sich in den vergangenen 20 Jahren nur das Learning-Management-System (LMS) in der Breite etablieren können und das lässt sich kaum als Innovation des Lernens betrachten. Vielmehr verstärken LMS die kulturellen Praktiken, die seit sehr langer Zeit an Hochschulen bestimmend sind. Es geht um das Bedürfnis, die Lehre und die Lernaktivitäten zu administrieren, und mit Technologie wird das noch viel effizienter. Damit will ich nicht behaupten, dass alle Lehrenden ein ausgeprägtes Kontrollbedürfnis ihren Studierenden gegenüber haben – als ich in den späten 1990er-Jahren studierte, konnte ich mir ein Bild von akademischer Freiheit machen. Allerdings ist mit dem hochschulweiten Einsatz von LMS das Pendel in Richtung Administration der Lehre geschwungen und damit blieben andere Bedürfnisse der Lehrenden und Studierenden auf der Strecke. LMS erwecken durch die vielen integrierten Funktionen wie Blogs, Foren oder Wikis den Anschein, dass damit auch neue didaktische Ansätze möglich sind. Dem ist aber keineswegs so. Über viele Jahre haben sich die LMS das Image der „PDF-Schleuder“ erarbeitet. Es geht also mehr um Verwaltung der Lehre als um Aktivierung des Lernens aus einer didaktischen Perspektive. 

Dadurch, dass Learning-Management-Systeme oft bolidenhaft als Allheilmittel für alle didaktischen Anliegen promoted  wurden, ist das Image von E-Learning bei vielen Lehrenden nicht das beste. In den vergangenen Jahren haben es die Hochschulen versäumt, pädagogische Vorstellungen des akademischen Lernens technisch umzusetzen. 

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Illustration: Irene Sackmann
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Bildung trotz(t) Digitalität

Markus Deimann beschäftigt sich seit 2001 mit Bildung und Digitalisierung. Er arbeitete an verschiedenen Hochschulen und promovierte und habilitierte im Fach Bildungswissenschaft. Er provoziert gerne mit Texten, Vorträgen oder im Podcast „Feierabendbier Open Education“. Es geht ihm um eine sachlich-kritische Auseinandersetzung mit Technik, jenseits von Hype und Untergangsphantasien. Seit 2017 gehört er zum Kernteam des Netzwerks für die Hochschullehre im Hochschulforum Digitalisierung (HFD). Auf MERTON schreibt er als Dr. D. eine regelmäßige Kolumne mit dem vieldeutigen Titel Bildung trotz(t) Digitalität. 

Markus Deimann auf Twitter.

Das LMS ist dafür zu wenig auf die Exploration neuen Wissens, das Erschließen von Zusammenhängen und die Vernetzung mit anderen, die nicht im gleichen Kurs eingeschrieben sind, ausgerichtet. Es ist eine nach außen abgeriegelte Lernumgebung, die sich weiterhin an den Strukturen des physischen Seminarraums orientiert. Das Netz als offener Kulturraum wurde bisher nicht ernsthaft von den Hochschulen bespielt. 

„Das Netz als offener Kulturraum wurde bisher nicht ernsthaft von den Hochschulen bespielt. “

Markus Deimann
Markus Deimann (Foto:privat)
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Markus Deimann

Das liegt unter anderem an der strikten Trennung zwischen Fakultäten und E-Learning-Support-Einrichtungen/Rechenzentren. Es sind unterschiedliche Funktionen zu erfüllen, die nach unterschiedlichen Logiken organisiert sind. So unterstehen die E-Learning-Einrichtungen als zentrale Einheit der Verwaltung, die mehr auf das Budget achtet, während die Fakultäten an Fortschritt in der Forschung und Lehre interessiert sind. Hier lassen sich aber auch die während der Corona-Krise unbürokratischen Beschaffungsprozesse für Videokonferenzsysteme entsprechend würdigen. Was früher aufwendig und langwierig war (und oft von anstrengender Überzeugungsarbeit der Entscheider in der Verwaltung begleitet), ging nun sehr schnell. Auch die Politik reagierte sehr schnell, stellte Millionen als Corona-Soforthilfe zur Verfügung und schuf neue rechtliche Rahmenbedingungen

 

Die Hochschulen können Digitalisierung! Wirklich?

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Online-Vorlesung (Foto: Tumisu via Pixabay)
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Der Aktionismus half, die Lehre im Corona-Semester sicherzustellen. Es wurde viel experimentiert, was durchaus ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung neuer Konzepte ist. Allerdings war es ein Reallabor und keine, wie sonst üblich, sorgfältig geplante und gestaltete Lernumgebung. Die Botschaft, die nun zu hören ist, lautet: Die Hochschulen können Digitalisierung! Zumindest aus Sicht der dafür notwendigen Technologien und Infrastrukturen. Bei den didaktischen Konzepten sieht es anders aus. So äußern sich auch Studierende mehrheitlich skeptisch im Hinblick auf ein weiteres digitales Semester. Zu divers waren die Eindrücke aus dem letzten Semester und die Erwartung, dass Lehrende in Crashkursen über den Sommer die notwendigen digitalen Kompetenzen erwarben, ist auch eher niedrig. 

Ein Ausweg aus dieser Misere sind sogenannte Blended-Learning- oder hybride Kurse. Damit soll das Beste aus beiden Welten auf fruchtbare Weise verknüpft werden. Aus der digitalen Welt die Flexibilität und Freiheit, zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort lernen zu können, und aus der analogen Welt die direkten Kontakte im Seminar, in der Bibliothek und im Café, durch die Studierende sich zu Persönlichkeiten entwickeln. Blended Learning ist ein mittlerweile in weiten Teilen der Welt etabliertes sowie gut beforschtes Konzept und so weiß man auch, welche Faktoren erfolgskritisch sind. Während in der Theorie Blended Learning mehr oder weniger selbsterklärend ist (es braucht „nur“ einen Mix aus Online- und Präsenzformaten in einem Kurs), stellt es sich in der Praxis deutlich komplizierter dar. So ist es etwa notwendig, das bestehende Curriculum kritisch unter die Lupe zu nehmen und den Anforderungen des Blended Learnings entsprechend umzugestalten. Nur eine digitale Komponente, etwa in Form eines LMS oder einer Onlineprüfung, hinzuzufügen, reicht nicht. Wichtig ist weiterhin eine leistungsfähige Infrastruktur, die auf die Bedingungen des verteilten Lernens abgestimmt ist.

Man kann sich das wie ein digitales Ökosystem vorstellen: ein gut bestellter Garten mit einem reichhaltigen Angebot. In diesem Bild wäre die Hochschule der Gärtner und bietet wie im Beispiel der Duke University in den USA eine Vielzahl an digitalen Werkzeugen für die Organisation der Lehre. Es ist nicht mehr ein monolithisches LMS, sondern ein Ökosystem an eigenständigen Tools wie Slack oder Google Docs für das Lernen und Arbeiten im Netz. Wichtig ist dabei, zu verstehen, dass es sich bei den Technologien nicht um fertige „Enterprise-Lösungen“ handelt, da diese oftmals ein problematisches pädagogisches Verständnis haben. Stattdessen sind die Werkzeuge immer im Zusammenhang mit den jeweiligen Lernzielen zu sehen und im Kontext didaktisch fundierter Planungen. Schließlich erfordert ein konsequenter Blended-Learning-Ansatz auch neue institutionelle Richtlinien, um beispielsweise den Anteil digitaler Lehre entsprechend anzurechnen.

Hier sind viele Ansatzpunkte als „Food for Thought“ für die deutschen Hochschulen, ich sehe aber auch Gefahren. Zum einen, dass die Digitalisierung weiter maßgeblich auf der Nischen-Ebene der Innovation abläuft, ohne das Geschäft der Lehre ausreichend irritieren und damit verändern zu können. Zum anderen, dass durch Digitalisierungsstrategien und militärisch anmutende Positionen („Chief Digital Officer“) der Eindruck einer unausweichlichen Naturgesetzlichkeit mit wenig individuellem Gestaltungsspielraum entsteht. Aus der Praxis des Corona-Semesters konnten wir lernen, dass es mindestens noch eine dritte Möglichkeit gibt. 

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