Chancengerechtigkeit

Türkei - Wenn Forscher zu Flüchtlingen werden

Nazan Maksudyan
Humboldt-Stipendiatin Nazan Maksudyan arbeitet derzeit am Berliner Leibniz-Zentrum Moderner Orient. (Foto: Murat Türemis)
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„Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“ – mit diesen Worten hatten zahlreiche Wissenschaftler vor einem Jahr an die türkische Regierung appelliert, zum Friedensprozess mit den Kurden zurückzukehren. Mehr als 400 von ihnen verloren in der Folge ihre Jobs. Gegen viele ermittelt die Polizei, Dutzende waren zeitweise im Gefängnis. Sie sind ohne Einkommen, denn die anderen Hochschulen stellen sie nicht wieder ein, und sie dürfen die Türkei praktisch nicht verlassen. Unter diesen dramatischen Umständen hat sich einer der Unterzeichner im Februar das Leben genommen.

Dieses Beispiel der „Academics for Peace“ zeigt, wie bedrohlich die Lage nicht nur für Journalisten, sondern auch für Wissenschaftler in der Türkei derzeit ist. Wie es so weit kommen konnte, davon berichten diejenigen, die noch rechtzeitig das Land verlassen konnten. Pınar Şenoğuz ist Anthropologin und arbeitet zurzeit in Göttingen. Sie war unter den Ersten, die Anfang 2016 die Onlinepetition zu den Kurdengebieten unterzeichneten. „Die Petition erreichte mich über die sozialen Netzwerke und ich habe sie einfach unterschrieben.“ Şenoğuz wusste damals noch nicht, wie viele ihrer Kollegen ebenfalls unterschreiben würden. Insgesamt schlossen sich mehr als 2.000 Wissenschaftler der Petition an. Die Reaktionen waren unerwartet heftig.

„Nach der Petition begann eine große Einschüchterungskampagne“, erzählt Şenoğuz. „Unsere Fotos wurden im Fernsehen gezeigt und wir wurden als Verräter beschimpft. Ein Mafiaboss sagte öffentlich, er wolle uns tot sehen.“ Auch Präsident Erdoğan zeigte sich verärgert und reagierte mit Entlassungen und Gerichtsverfahren. Noch vor dem Militärputsch im Juli hatten mehr als 50 Academics for Peace ihre Stellen verloren. Doch Şenoğuz wollte in Gaziantep bleiben, einer Stadt im Südosten der Türkei. Die resolute Wissenschaftlerin hatte von dort aus jahrelang das türkisch-syrische Grenzgebiet erforscht und ihre Arbeit war noch nicht abgeschlossen. Doch sie merkte, dass das Klima in der Türkei für ihre Forschung immer brenzliger wurde.

"Ich habe einen Monat lang gekämpft." - Pınar Şenoğuz
Pınar Şenoğuz
Pınar Şenoğuz (Foto: Murat Tueremis)
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Immer mehr türkische Wissenschaftler suchen im Moment nach einem Weg, die Türkei zu verlassen. Bei Scholars at Risk (SAR), einem internationalen Netzwerk, das sich um verfolgte Wissenschaftler kümmert, haben sich seit Januar 2016 insgesamt 500 türkische Wissenschaftler gemeldet. Damit liege die Türkei inzwischen sogar vor Syrien, so ein Sprecher des Netzwerks weiter.

Auch die Anthropologin Şenoğuz bemüht sich bereits seit Ende März 2016 um einen Forschungsaufenthalt in Deutschland. Mithilfe von SAR und der Universität Göttingen bekommt sie das Philipp Schwartz-Stipendium für gefährdete Forschende (siehe Infokästen). Ihr Mann und ihre Tochter reisen schon nach Deutschland, da versucht das türkische Militär sich im Juli 2016 an die Macht zu putschen. Şenoğuz ist noch im Land und ihr ist klar, wie schwierig es jetzt werden wird.

Wo können gefährdete Forscher Unterstützung bekommen?

Philipp Schwartz-Initiative

Die Initiative unterstützt Hochschulen und Forschungseinrichtungen dabei, gefährdete Forscher für 24 Monate aufzunehmen. Das Vollstipendium wird vergeben durch die Alexander von Humboldt-Stiftung und finanziert vom Auswärtigen Amt sowie zahlreichen weiteren Stiftungen, wie zum Beispiel der Robert Bosch Stiftung. Für die nächste Förderrunde können bis zum 21. April 2017 Bewerbungen eingereicht werden. 

Scholars at Risk

Im Netzwerk Scholars at Risk arbeiten mehr als 400 Hochschuleinrichtungen weltweit daran, Wissenschaftlern in Not zu helfen und ihre Grundrechte zu verteidigen. Das Netzwerk vermittelt jährlich mehr als 100 Wissenschaftler in Gastaufenthalte im Ausland. Außerdem bietet Scholars at Risk Beratungen vor Ort auch für die Familien der Wissenschaftler an. 

Crowdfunding für Academics for Peace

Amerikanische Forscher haben ein Crowdfunding-Projekt eingerichtet, über das weltweit Spenden für Wissenschaftler in der Türkei gesammelt werden. Mit der ersten Förderung soll für 35 entlassene Wissenschaftler ein halbes Jahr lang ein Grundeinkommen gesichert werden. 

Ausreise im letzten Moment

Sie hat zwar einen grünen Reisepass – eigentlich ein Privileg für Staatsbedienstete in der Türkei –, mit dem sie normalerweise visafrei in die EU reisen kann. „Doch nach dem Putsch durften Wissenschaftler mit dem grünen Pass nur noch reisen, wenn sie auch eine Erlaubnis der Universitätsverwaltung hatten“, berichtet Şenoğuz. Das Privileg wäre so fast zu einer Falle geworden. „Ich habe einen Monat lang gekämpft. Dann bekam ich eine Erlaubnis für drei Tage.“ Sie reiste nach Deutschland und kehrte nicht wieder zurück.

Deutschland ist im vergangenen Jahr zum Hauptzielland für geflohene Wissenschaftler geworden. Während bislang die meisten Wissenschaftler in die Niederlande oder nach Norwegen geflohen waren, kamen im Jahr 2016 die meisten von ihnen nach Deutschland, so das Netzwerk SAR. Das dürfte vor allem an den Philipp Schwartz-Stipendien liegen. Verschiedene deutsche Stiftungen und das Auswärtige Amt unterstützen damit seit 2015 Universitäten dabei, gefährdete Forscher für zwei Jahre aufzunehmen. Von 69 Forschern kommen derzeit 27 aus der Türkei, wie die Alexander von Humboldt-Stiftung mitteilte, die bei dem Programm federführend ist. Im April sollen noch einmal 33 Förderungen bewilligt werden – vermutlich auch wieder ein großer Teil für türkische Wissenschaftler.

Die Geschichte von ihrer Flucht aus der Türkei erzählt Şenoğuz bei einem Spaziergang über den frühlingshaften Campus der Universität Göttingen. Immerhin habe sie jetzt Zeit, ihre Forschungsergebnisse in einem Buch zusammenzufassen. Doch zurück im Büro schaut Şenoğuz zuerst in ihre E-Mails. Man merkt ihr an, wie sehr sie sich um ihre Kollegen in der Türkei sorgt.

Kritische Bemerkungen aus der Universitätsverwaltung

Nach dem Putsch löschten Forscher ihre WhatsApp-Chatverläufe, berichtet Nazan Maksudyan.
Nazan Maksudyan
Nazan Maksudyan (Foto: Murat Türemis)
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Das geht auch Nazan Maksudyan so. Sie ist Historikerin, hat ein Stipendium der Humboldt-Stiftung und forscht derzeit am Berliner Leibniz-Zentrum Moderner Orient. Obwohl Maksudyan das mutige Auftreten der "Academics for Peace“ unterstützt, hat sie deren Petition aus Angst und Unsicherheit heraus nicht unterschrieben. Deshalb konnte sie noch bis November 2016 in der Türkei forschen.

Maksudyan kann berichten, wie sich das Leben für Wissenschaftler in der Türkei nach dem Militärputsch verändert hat. „Gleich nach dem Putsch gab es Gerüchte auf Twitter, wonach die Regierung WhatsApp-Gespräche mitlesen könne“, erzählt Maksudyan. „Also haben alle ihre Chatverläufe gelöscht.“ An ihrer Fakultät habe es im Alltag immer öfter kritische Bemerkungen aus der Universitätsverwaltung gegeben. Es hieß, mit ihren Forschungen, unter anderem zum Genozid an den Armeniern, bringe Maksudyan das Institut in Gefahr. Der Kreis von Menschen, mit denen sie noch über Politik gesprochen habe, sei immer enger geworden. Im November ging sie schließlich nach Deutschland.

Beide Wissenschaftlerinnen betonen, wie warmherzig sie hier von ihren Kollegen empfangen worden seien und wie wichtig die Stipendien der Philipp Schwartz-Initiative sind. Doch angesichts der Lage in der Türkei müssten die Stipendien noch ausgeweitet werden. Einige Bundesländer, wie Baden-Württemberg oder Niedersachsen, planten derzeit eigene Unterstützungsprogramme für türkische Wissenschaftler. Die neuen Fonds richten sich an Wissenschaftler jedweder Nationen.

Auch einzelne Wissenschaftler können helfen

Dass auch einzelne Wissenschaftler etwas tun können, zeigt das Beispiel des Konfliktforschers Andreas Zick. Im Juli 2016 bekam er den Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Stifterverbandes verliehen. Spontan habe er sich dann entschieden, einem türkischen Kollegen mit dem Preisgeld zu helfen – immerhin 50.000 Euro. Das musste allerdings diskret geschehen, um den Kollegen in der Türkei nicht noch weiter zu gefährden. Also spendete Zick das Geld an die Universität Bielefeld. Die verdoppelte den Betrag und ermöglichte den Gastaufenthalt des Forschers aus der Türkei. Auch Zick fordert, die Stipendien für bedrohte Forscher auszubauen. Außerdem wünsche er sich noch mehr Informationen über Wissenschaftler, die in der Türkei festsäßen und sich nicht öffentlich äußern könnten, so Zick. „Wenn man da ein paar Namen hätte, dann könnte man denen auch helfen.“

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Andreas Zick (Foto: Universität Bielefeld)
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Konfliktforscher Zick

In der Türkei versuchen entlassene Wissenschaftler indes, den Unterricht für ihre Studenten fortzusetzen. In sechs Städten gebe es „Solidaritäts-Akademien“ unter freiem Himmel, meist in öffentlichen Parks, berichtet die Anthropologin Şenoğuz. Ihre Kollegen benötigten dringend Geld. Deshalb haben die „Academics for Peace“ jüngst eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen, mit der man Wissenschaftler in der Türkei unterstützen kann (siehe Infobox oben). „Sie brauchen aber auch akademischen Austausch“, so Şenoğuz weiter. Zum Beispiel könnten sie in Onlineseminare oder in gemeinsame Forschungsprojekte eingebunden werden. Auch die Historikerin Maksudyan betont, wie wertvoll die Unterstützung durch deutsche Kollegen sein kann: „Ich habe die Türkei verlassen, weil ich mich irgendwann zu oft selbst zensiert habe. Hier in Deutschland gibt es keinen Grund, still zu bleiben.“

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