Chancengerechtigkeit

„Das war für mich mehr als ein Lottogewinn“

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Rüdiger Grube (Foto: Carsten Koall/Getty Images)
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Herr Grube, Arbeit sei für Sie eine Quelle der Inspiration, haben Sie vor einiger Zeit in einem Interview gesagt. Das klingt ziemlich elitär – ist Arbeit nicht manchmal einfach nur Broterwerb?
Ich bin auf einem Bauernhof in der Nähe von Hamburg groß geworden, und da habe ich schon als Kind sehr früh gesehen, dass man überall anpacken und Verantwortung übernehmen muss. Keiner fragt, ob man gerade Lust hat oder nicht. Und sobald man mithilft, übernimmt man automatisch Verantwortung. Wenn man das verinnerlicht, dann wagt man sich an immer größere Aufgaben heran. Und diese können dann wiederum sehr inspirierend sein. 

An einer Aufgabe zu wachsen – ist es das, was Sie als Inspiration verstehen?
Genau, und mich persönlich begleitet dieses Thema auf meinem ganzen Berufsweg. Ich habe eine Lehre im Metallflugzeugbau gemacht, danach auf dem zweiten Bildungsweg studiert und schließlich promoviert. Schon in der Schule habe ich mich nie ausgelastet gefühlt und mir immer eigene Aufgaben gesucht. Wenn es keine Schülerzeitung gab, habe ich eine gegründet. Wenn es keinen Klassensprecher gab, habe ich das übernommen. So ging das in der Lehre weiter: Die Ausbildung ist super, habe ich mir gesagt, aber eigentlich müsstest du mehr machen. Und so bin ich Jugendsprecher geworden und war auch in der Gewerkschaft aktiv.

Gab es für Sie ein Schlüsselerlebnis, das Sie die ganze Zeit über angetrieben hat?
Ja, das gab es tatsächlich: Als ich zehn Jahre alt war, musste meine Mutter, die uns allein erzogen hat, für eine Woche ins Krankenhaus. Wir Kinder kamen da bei unserer Tante unter, und sie hat uns am Mittagstisch gefragt, was wir mal werden wollen. „Pilot!“, habe ich da gerufen, wie aus der Pistole geschossen, und meine Tante hat schallend gelacht. Ich habe das als ein Auslachen empfunden – und da ist bei mir unter der Haut so ein kleiner Stachel entstanden, so ein Ehrgeiz, es ihr zu zeigen. Heute lache ich darüber, aber das hat mich ungeheuer beflügelt. Vielleicht schaffe ich es nicht, Pilot zu werden, habe ich mir damals gesagt, aber ich werde etwas tun, was nicht alltäglich ist.

Sagen Sie, gibt es bei der Bahn heute eine Lehrlingszeitung?
(lacht) Ich ahne, warum Sie das fragen.

Zur Person

Rüdiger Grube ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn. Er hat eine ungewöhnliche Bildungslaufbahn hinter sich: Mit seinem Hauptschulabschluss machte er zunächst eine Ausbildung im Metallflugzeugbau und studierte dann Fahrzeugbau und Flugzeugtechnik, anschließend noch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Mit 35 Jahren promovierte er und startete danach eine steile Karriere, unter anderem als Vorstand bei Daimler-Benz, bei Airbus, DaimlerChrysler und dem europäischen Luft- und Raumfahrtunternehmen EADS, wo er Verwaltungsratspräsident war, sowie als Konzernvorstand bei der Daimler AG. Heute engagiert er sich in einer eigenen Stiftung für Hauptschüler. 

Das hängt wieder mit Ihrer eigenen Laufbahn zusammen …
… und zwar mit jener Zeit, als ich selbst Lehrling bei Blohm + Voss in Hamburg gewesen bin. Da hatte ich eine Lehrlingszeitung ins Leben gerufen und in einer Ausgabe einen Bericht über Organspenden geschrieben. Was ich nicht wusste: Der Firmeninhaber Werner Blohm nahm die Zeitung jedes Mal mit nach Hause. Dort las seine Frau diesen Artikel und fragte, wer das geschrieben habe. Am nächsten Tag rief Blohm mich, den kleinen Lehrling, in sein Chefbüro und lud mich zu sich nach Hause ein. Da war ich dann im noblen Blankenese, und seine Frau fragte, was ich denn gern beruflich machen würde. Ich habe ihr von meinem Traum erzählt, Pilot zu werden, und davon, dass meine Eltern mir das nicht ermöglichen konnten. Jetzt wolle ich gern Flugzeugbau studieren, sagte ich. Am nächsten Tag ließ mich der Chef wieder in sein Büro rufen und fragte: Sind Sie mit 300 Mark einverstanden? Er hat mir jeden Monat 300 Mark für das Studium gezahlt unter der Auflage, dass ich ihm jedes Semestermeine Zeugnisse zeige und in den Ferien bei ihm arbeite. Und ich sage ganz offen: Dass er sich für mich interessiert hat, war mir wichtiger als das Geld. Denn beides zusammen war für mich mehr als ein Lottogewinn.

„Ich beneide diejenigen, die etwas von der Pike auf gelernt haben“

Rüdiger Grube
Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn

Nehmen Sie sich Ihrer eigenen Lehrlinge denn heute auch so intensiv an?
Als ich im Jahr 2009 zur Bahn gekommen bin, habe ich Willkommensveranstaltungen für die Auszubildenden eingeführt. Und da nehme ich jetzt jedes Jahr persönlich teil. Beim ersten Mal haben wir im ICE-Werk Rummelsburg in Berlin 1.000 Auszubildende begrüßt und dazu die Bundeskanzlerin eingeladen. Vor Beginn der Veranstaltung hatte ich mit Frau Merkel eine kleine Wette abgeschlossen.

Worum ging es?
Wir haben ein Programm namens Chance plus, über das wir junge Menschen, die noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, auf eine Berufsausbildung oder einen direkten Jobeinstieg vorbereiten. Die nehmen wir an die Hand, sie bekommen einen Mentor, und wir qualifizieren sie über ein Jahr hinweg weiter, sodass sie anschließend in die Ausbildung oder direkt in einen Job einsteigen können. Ich habe gesagt: Frau Bundeskanzlerin, ich verrate Ihnen nicht, welche Mitarbeiter zu diesem Programm gehören. Und es war erstaunlich: Sie hat die Chance-Plus-Kollegen nicht erkannt. Wissen Sie warum? Weil die Chance-Plus-Auszubildenden sehr leidenschaftlich sind, unheimlich aufgeschlossen – und dankbar für die Chance.

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Rüdiger Grube (Foto: Carsten Koall/Getty Images)
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Rüdiger Grube ist Mitglied im Vorstand des Stifterverbandes und Vorsitzender des Landeskuratoriums Berlin/Brandenburg.

In Ihrer eigenen Laufbahn spielte das Glück eine Rolle, dass Ihnen Ihr Chef das Studium ermöglicht hat. Heute gibt es viele Stipendien – werden Aufsteigerkarrieren wie Ihre damit einfacher?
Ich bin der Überzeugung: Wenn jemand will, gibt es heute viele Möglichkeiten. Auch dann, wenn die Eltern finanziell nichts beitragen können.

Gleichzeitig sind in immer mehr Unternehmen akademische Abschlüsse die Voraussetzung für eine Karriere. Nimmt man damit nicht denjenigen viele Chancen, die kein Studium mitbringen?
Seiteneinsteiger haben nach wie vor eine Chance, aber sie haben es deutlich schwerer. Ich selbst bin immer wieder erstaunt, wie viele Kollegen es hier bei der Bahn gibt, die kein herkömmliches Studium absolviert haben und außerordentlich erfolgreich sind. Auch in Zukunft müssen wir deshalb Aufstiegsmöglichkeiten bieten, auch ohne Abitur oder Studium. Wir setzen auf lebenslanges, berufsbegleitendes Lernen. Schließlich gibt es bei Bahnern traditionell eine geringe Fluktuation – nicht wenigen gratulieren wir zum 40- oder 50-jährigen Dienstjubiläum. Bei 500 Berufswegen innerhalb der DB kann man sich in viele Richtungen entfalten. Jedes Jahr stellen wir 3.400 Jugendliche für eine Ausbildung ein. Alle Bewerber absolvieren einen Online-Test, egal wie das Zeugnis aussieht. Wir wollen Leute, die offen, neugierig und teamfähig sind – das ist uns wichtiger als irgendein Notendurchschnitt.

Die Deutsche Bahn ist in vielen Ländern tätig. Wenn Sie die Mitarbeiter und Ihre Ausbildung vergleichen – sehen Sie da einen Unterschied?
Keinen Unterschied, aber ich habe zum Beispiel viele Jahre in China und anderen Teilen der Welt gearbeitet, und da merkt man schon, was es heißt, wenn jemand ein Duales Ausbildungssystem kennengelernt hat. Der Wechsel von Theorie und Praxis legt die Basis für eine lebenslange berufliche Entwicklung. Für mich ist das eines der besten Systeme weltweit, ein elementarer Bestandteil des Siegels „Made in Germany“. Deshalb versuchen so viele Länder, unser System nachzuahmen, weil wir unseren jungen Leuten eine breite und ganzheitliche Ausbildung anbieten. Da haben wir ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal, das wir hegen und pflegen müssen.

Wenn in der Gesellschaft trotzdem nach immer mehr Akademikern gerufen wird – was steckt da Ihrer Meinung nach dahinter?
Na ja, auch bei der Bahn steigen die Anforderungen an die Mitarbeiter, zum Beispiel durch die Technisierung. Nehmen Sie die Stellwerke: In der Kaiserzeit waren das mechanische Anlagen, bei denen ein Fahrdienstleiter die Weichen und Signale nur eines Bahnhofs mit der Hand gestellt hat. Heute erfolgt das zentral per Mausklick für Anlagen, die mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt sind. Auch die Ausbildungsberufe werden differenzierter, weil die Komplexität gestiegen ist und weiter steigt. Was früher der Mechaniker war, ist heute der Mechatroniker.

Trotzdem: Kritiker sprechen davon, dass der deutsche Arbeitsmarkt auf dem Weg zu einer Überakademisierung sei. Teilen Sie diese Bedenken?
Ja. Die Regel ist doch: Wer Karriere machen will, der braucht einen akademischen Abschluss, sonst passt er einfach nicht in bestimmte Muster. Das fängt schon da an, wo es um ein Management-Seminar geht, auf das wir jemanden zur Weiterentwicklung schicken. Oft kommt man da ohne Hochschulabschluss gar nicht rein. Wenn ich mir bei der Bahn die Führungskräfte anschaue, stelle ich dagegen oft fest: Wer kein Studium hat, aber schon mal an der Basis gearbeitet hat, am besten auch eine Zeitlang im Schichtdienst, spricht viel besser die Sprache der Mitarbeiter, weil er sich besser in deren Rolle hineinversetzen kann.

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Rüdiger Grube (Foto: Steffen Weigelt)
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Das hört sich stark autobiografisch gefärbt an: Sie haben ja auch selbst alle Hierarchiestufen kennengelernt.
Genau, und das ist ein wichtiger Vorteil. Ich persönlich glaube, dass die Sprache ein unheimlich wichtiges Führungsinstrument ist. Führung hat in Unternehmen fast immer mit Veränderung zu tun, und dabei ist man darauf angewiesen, dass die Menschen mit einem gehen und sich leidenschaftlich für die Ziele einsetzen.

Fehlt Ihnen umgekehrt nicht manchmal in Management kreisen ein wenig der Nestgeruch?
Sie meinen das Humboldt’sche Bildungsideal? Ich muss ganz offen zugeben: Ich beneide diejenigen, die etwas richtig von der Pike auf gelernt haben – ob nun Altgriechisch, moderne Sprachen oder Geschichte. Es ist einfach ein Unterschied, ob Sie sich selbst etwas im Galopp beigebracht haben oder es gründlich gelernt haben. In der Hauptschule habe ich in Mathematik nicht viel mehr als Plus, Minus und Geteilt gelernt. Damit bin ich im ingenieurwissenschaftlichen Studium natürlich schnell an die Grenzen gestoßen, mir hat die Substanz gefehlt, die ein Abiturient mitbringt. Bis zum Vordiplom war ich öfters drauf und dran, alles hinzuschmeißen. Aber dann habe ich mir einen Rechenduden gekauft – und während die anderen Partys feierten, habe ich mich auf die Klausuren vorbereitet und mir Mathe selbst beigebracht.

Fehlt Ihnen heute manchmal das Handwerkliche, das Gestaltende, das Sie als Lehrling täglich erlebt haben?
Aber gerade das Gestalten ist doch die große Kontinuität in meinem Werdegang! Wenn ich eine Aufgabe bekäme, bei der ich keinen Freiraum hätte und nicht selbst gestalten könnte, wäre ich gleich am nächsten Tag wieder weg. Das war auch schon in der Ausbildung so. Während des Studiums habe ich Blut geleckt, tiefer in Themen einzusteigen – das war meine Art, den fehlenden Humboldt’schen Bildungshintergrund zu kompensieren. Dass ich promoviert habe, ich, der Sohn vom Bauernhof – das war für mich dann das i-Tüpfelchen. Heute sage ich, dass dieses Doktorstudium vor allem eine Fleißarbeit war. Aber damals war es für mich die Möglichkeit, diesen kleinen Stachel unter der Haut loszuwerden, der da immer noch saß, seit meine Tante mich beim Mittagessen für meinen Berufswunsch ausgelacht hat. Nach meiner Promotion habe ich diesen Stachel nicht mehr gefühlt. Heute kann ich über alles lachen, damals war es anders.

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