Chancengerechtigkeit

"Bildungsaufsteiger absolvieren Höchstleistungen"

Aladin El-Mafaalani
Aladin El-Mafaalani (Foto: Peter Himsel)
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Sie sind vielen ein Vorbild: 34 Jahre alt, syrische Vorfahren, Professor an der Fachhochschule Münster. Ihre Studien zu Bildungsaufsteigern aus benachteiligten Milieus wurden mehrfach prämiert. Was zeichnet Kinder aus, die sich über ein Jahrzehnt lang erfolgreich durchs deutsche Bildungssystem boxen?
Grob skizziert: Sie wollen mehr erreichen als die Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld. Dafür sind sie bereit, sich selbst zu verändern. Doch dies ist ein unbekannter Weg, den sie nur schlecht planen können. Überall gibt es Hürden: fehlendes Wissen, wenig Anerkennung, Vorurteile, Geldsorgen, fehlende Anteilnahme, Benachteiligungen. Niemand hat sie darauf vorbereitet. Kinder und Jugendliche, die einen Aufstieg dennoch schaffen, zeigen ein enormes Durchhaltevermögen. Sie halten diese Unsicherheiten vom ersten Schuljahr über die Hochschulzeit bis ins Berufsleben hinein aus.

Erschreckend viele Aufsteiger werfen noch im Studium alles hin. Außenstehende können dies schwer nachvollziehen. Was passiert da?
Ich nenne das die ungeplanten, ungeahnten Nebenwirkungen des Erfolgs. Unbeteiligte schauen sich Aufsteiger an und sagen: Was für eine Leistung, Respekt. Das kann nur positiv sein! Wer sich aber von unten nach oben durchkämpft, empfindet das anders. Er erlebt seinen Erfolg ambivalent.

Inwiefern? Sie haben biografische Interviews mit mehr als 100 Aufsteigern geführt.
Alle hatten Abbruchgedanken noch in der Hochschule, viele sogar im Berufsleben. Das war auch für mich überraschend. Wenn man sich in die Biografien reinfühlt, ist es aber plausibel. Denn man paukt auf dem Weg nach oben nicht nur Vokabeln oder Formeln. Aufsteiger absolvieren Höchstleistungen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Denk- und Handlungsmuster aus dem Herkunftsmilieu passen immer weniger. Wer vorankommen möchte, muss sie zu weiten Teilen über Bord werfen. Das gilt für Kinder aus armen Verhältnissen genauso wie für Kinder aus Einwandererfamilien. Dabei entfremdet man sich von seinem Umfeld, von Freunden, der Familie. Unter Umständen also von allen Menschen, die in Kindheit und Jugend wertvoll waren. Das ist schmerzhaft und erfordert eine hohe Trennungskompetenz. Nicht jeder schafft das auf Dauer. Der Erfolg ist gekoppelt an den Verlust von Solidarität, Sozialkontakten, Zugehörigkeitsgefühl. Rückzugsgedanken wachsen spätestens dann, wenn es für all das keinen adäquaten Ersatz gibt. Wenn das neue Umfeld „da oben“ sich weiter fremd und abweisend anfühlt.

„Denk- und Handlungsmuster aus dem Herkunftsmilieu passen immer weniger. Wer vorankommen möchte, muss sie zu weiten Teilen über Bord werfen. Das gilt für Kinder aus armen Verhältnissen genauso wie für Kinder aus Einwandererfamilien.“

Aladin El-Mafaalani
Aladin El-Mafaalani (Foto: Peter Himsel)
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Aladin El-Mafaalani

Unterschätzen Hochschulen die Auswirkungen sozialer Prägungen?
Ich denke schon. Der plötzliche Rückzug von Studierenden aus Unterschichtsfamilien ist ein Phänomen, ihre Studienwahl ein weiteres. Wer in Knappheit aufwächst – Knappheit an Geld, Wissen, Anerkennung – lebt als Erwachsener dieses „Management von Knappheit“ weiter. Handlungen müssen sofort einen Sinn ergeben und nicht erst übermorgen. Ist ein Lösungsweg sicher, sind alternative Lösungsansätze Zeitverschwendung. Diese jungen Menschen tun sich eher schwer damit, in Alternativen zu denken. Sie sind auf der Suche nach Eindeutigkeit. Die Fähigkeit zu abstrahieren wird in der familiären Sozialisation kaum vermittelt. Studienfächer wie Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte oder Philosophie interessieren Aufstiegskinder deshalb weniger. Es zieht sie vielmehr in die MINT-Fächer, in Studiengänge, wo sofort klar ist, wofür sie gut sind. Erst wenige Hochschulen sehen dieses Potenzial.

Was wird beim Blick auf Aufsteiger noch übersehen?
Jugendliche aus der Unterschicht brechen nicht nur weitaus häufiger ihr Studium ab als Jugendliche aus der Bildungsschicht. Sie fangen auch seltener eins an: Abitur ja, Studium nein. Auch hier wirken Barrieren, die sich nicht nur institutionell begründen lassen. Diese Hürden sind in den Menschenselbst. Aufsteiger haben keine Erfahrung mit dem, was sie erwartet. Was sie in den Familien an Sozialisation gelernt haben, hilft kaum weiter. Diese Kinder und Jugendlichen müssen deshalb schon während der Schulzeit enorme Unsicherheiten aushalten. Sie denken von Hause aus in Funktionen. Lehrer wollen ihnen aber fortwährend „sinnlose“ Dinge beibringen. Über Jahre bleibt schleierhaft, wofür man das alles lernen soll. Ein Jugendlicher, der in dieser Situation bei der Stange bleibt, sich fortwährend selbst motiviert, zeigt bis zum Schulabschluss eine beachtliche Leistung. Jetzt steht er mit dem Abi in der Tasche vor dem nächsten Dickicht: Hochschule. Und er fragt sich: Warum soll ich mir das weiter antun? Diese jungen Menschen gehen einfach zwischen den Institutionen Schule und Hochschule verloren. Das gilt ganz besonders für Universitäten. Ein gutes Bildungssystem würde diese klassenspezifische „Gefahrenzone“ erkennen und den Betroffenen helfen. Damit wird nun begonnen. An Universitäten und Fachhochschulen gibt es mittlerweile viele Initiativen, die in diese Richtung gehen.

Unterschichtskindern wird gerne vorgeworfen, sie wollten sowieso nicht lernen. Reich und berühmt werden, klar. Schule? Zu öde.
Das Motiv „reich und berühmt werden“ hat relativ wenig mit Bildung zu tun. Alle Kinder aus armen Familien wollen das, weil ihnen Geld, Anerkennung oder Einfluss fehlen. Die Fernsehsender haben das längst erkannt und kreieren mit diesen Sehnsüchten fortwährend neue Casting- und Talentshows. Die neuen Vorbilder sind Models, Superstars oder Nationalfußballer, weil sie noch so sind wie man selbst, bloß eben reich und berühmt. Die hören sich nicht wie ein Anwalt an, die sprechen noch dieselbe Sprache. Ich fand die Frage sehr spannend, was Unterschichtskinder tatsächlich zum Lernen motiviert. Meine Studien  ergaben: Aufsteiger streben nach persönlicher Veränderung. Es ist nicht das Motiv vom Tellerwäscher zum Millionär.

Aladin El-Mafaalani
Aladin El-Mafaalani (Foto: Peter Himsel)
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Aladin El-Mafaalani

Aladin El-Mafaalani zählt selbst zu den sogenannten Bildungsaufsteigern: Bereits mit 34 Jahren wurde der Sohn syrischer Einwanderer als Professor für Politikwissenschaften an die Fachhochschule Münster berufen. Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit, für die er bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, sind die Themen soziale Ungleichheit, Bildung und Migration.

Sie sagen, es braucht „soziale Paten“ auf dem Weg nach oben. Warum?
Die ganze Forschung zu Bildungsaufstiegen zeigt deutlich: Es braucht Unterstützer, die bildungsnah sind oder eben aus einem höheren Milieu stammen. Kollegen und ich nennen sie soziale Paten. Die eigenen Eltern können kaum helfen, auch wenn sie wollten. Bei ihnen stellt sich eher die Frage, ob sie dem Bildungsaufstieg wohlwollend gegenüberstehen oder ihrem Kind noch zusätzlich Steine in den Weg werfen. Spätestens beim Übergang zur Hochschule sind soziale Paten unverzichtbar. Im Idealfall sollten aber mehrere Unterstützer den Weg von unten nach oben begleiten. Angefangen von der Kita-Erzieherin bis zum Mentor im Berufsleben.

Aber sind Hauptschulklassen voller Kinder, denen das Leben bislang wenig geschenkt hat, nicht die Realität?
Ich halte die Selektionswut im deutschen Bildungssystem für ein großes Problem. Nehmen wir die Hauptschule als Beispiel. Dort sitzen durchaus Kinder, die das Potenzial für einen Bildungsaufstieg hätten, das Abitur schaffen könnten, aber man hält sie da, wo sie sind, fest. Warum wechseln leistungsstarke Kinder so selten von der Hauptschule zur Realschule oder zum Gymnasium? Weil die Lehrer an Hauptschulen auf ihre besten Schüler nicht verzichten können! Diese Logik kann man vielleicht verstehen, für die betroffenen Kinder sind diese Haltekräfte eine Katastrophe. Schüler sollen per Gesetz zwischen den Schulformen wechseln können. De facto passiert dies sehr selten und wenn, dann sind es fast ausschließlich Abstiege. Das ist ein trauriges Missverhältnis.

Verhalten sich Lehrer falsch?
Sie sind eher funktionierende Rädchen eines überselektierenden Systems. Ich meine das nicht bösartig oder als Lehrerschelte. Fakt ist aber: Wenn in deutschen Klassenzimmern Lernprobleme auftauchen, sucht das System die Schuld nicht beim Lehrer. Das System sortiert das problematische Kind einfach woanders hin, durch Klassenwiederholungen oder Schulformwechsel. Lehrer machen also nie den falschen Unterricht, sondern haben immer bloß die falschen Schüler. In unseren Klassenzimmern müssen schon kleine Kinder miteinander konkurrieren, Lehrer aber nicht. Wie anders sähe ein Schulsystem aus, das dies genau umkehrt: Wenn alle Schüler am richtigen Platz wären und die Lehrer in einem Wettbewerb um die besten Unterrichts- und Betreuungskonzepte stünden. Ich sehe in der bestehenden Grundlogik das Hauptproblem für jede Schulreform. Aber diese Grundlogik ist historisch gewachsen und kurzfristig wohl kaum veränderbar. 

Aladin El-Mafaalani
Peter Himsel
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"Fakt ist aber: Wenn in deutschen Klassenzimmern Lernprobleme auftauchen, sucht das System die Schuld nicht beim Lehrer."

Das Video-Interview

meint Aladin El-Mafaalani, Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Münster.
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