Future Skills

„Ein Klempner muss künftig auch IT-Spezialist sein“

Volker Meyer-Guckel (Foto: Damian Gorczany)
Volker Meyer-Guckel (Foto: Damian Gorczany)
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Herr Meyer-Guckel, wann haben Sie zuletzt etwas dazugelernt?
Zum Glück lerne ich von meinen jungen Kollegen jeden Tag etwas dazu. Neulich hat mir einer die App Vanido empfohlen. Kennen Sie die?

Nein, noch nie gehört.
Die hilft dabei, den eigenen Gesang zu stärken. Man nimmt seine eigene Stimme auf und wird angeleitet, sie zu verbessern, die Töne besser zu treffen. Das ist doch großartig, oder?

Ohne Frage – aber das ist jetzt auch keine App, auf die die meisten Menschen gewartet haben, oder?
(lacht) Nein, sicher nicht. Aber sie steht für eine Entwicklung, die es in eigentlich allen anderen Lebensbereichen auch gibt: Man kann erstens in Eigenregie lernen, und zweitens ist der Computer in vielen Fällen ein entscheidender Bestandteil von Weiterbildungsangeboten geworden. Für jede Frage gibt es eine Antwort im Netz! Wenn mir meine Kinder sagen: „Papa, hilfst du mir bei den Hausaufgaben?“, dann antworte ich: „Schaut euch erst mal ein Tutorial bei YouTube an, und wenn ihr dann noch Fragen habt, dann helfe ich euch gern.“ Meistens kommen sie dann gar nicht mehr, weil das Internet das besser erklären kann als der Papa.

Das ist nicht gerade gut für den Vaterstolz, oder?
Im Gegenteil: Ich bin zwar Chemiker, verstehe aber erst jetzt durch Videos genau, wie zum Beispiel Kristallstrukturen in einem Molekül aufgebaut sind. Vorher konnte ich mir das nur abstrakt vorstellen, in der Kombination von gesprochenem Wort und Bildern wird es auf einmal viel deutlicher. Diese Möglichkeiten des Internets krempeln unsere Bildungslandschaft ziemlich um, denn nun gibt es neben den offiziellen Orten des Lernens auch informelle Orte.

Zählen Sie alles das, was jemand ohne Prüfung und ohne Zeugnis zu Hause lernt, auch zur Weiterbildung?
Ja, selbstverständlich! Gerade vor einigen Monaten erst haben 15 große amerikanische Firmen – unter anderem Google, Apple und IBM – erklärt, dass ein Collegeabschluss nunmehr keine Bedingung mehr sei, um bei ihnen eingestellt zu werden. Das heißt ja nicht, dass sie auf einmal völlig andere Bewerber suchen, sondern dass der formale Abschluss für sie keine so große Rolle mehr spielt. Es ist wichtig, dass man bestimmte Kompetenzen hat – und nicht, wo man sie erworben hat.

Zur Person

Volker Meyer-Guckel studierte Anglistik, Philosophie und Chemie in Kiel, Belfast und New York. Er unterrichtete Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität zu Kiel, wo er 1992 promovierte. 1993 wechselte er in die Studienstiftung des deutschen Volkes. Von 1997 bis 1999 arbeitete er im Planungsstab des Bundespräsidenten Roman Herzog. Von 1999 bis 2005 leitete er die Programme des Stifterverbandes in den Bereichen „Hochschulentwicklung“ und „Strukturinnovation in der Wissenschaft“. Seit 2005 ist er stellvertretender Generalsekretär des Stifterverbandes. Er ist unter anderem Mitglied im Global Learning Council, geschäftsführender Vorstand der Stiftung Bildung und Gesellschaft, Mitglied im Vorstand der Hermann und Lilly Schilling-Stiftung, Vorsitzender des Stiftungsrates der Leuphana Universität Lüneburg und Mitglied im Stiftungsrat der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).

„Es ist wichtig, dass man bestimmte Kompetenzen hat – und nicht, wo man sie erworben hat.“

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Volker Meyer-Guckel (Foto: David Ausserhofer)
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Volker Meyer-Guckel

Das klingt nach einer ziemlich großen Umstellung, wenn man sich vor Augen hält, wie reglementiert das deutsche Bildungswesen ist.
Reglementierung hat zwei Seiten. Formalisierung und Systematisierung. Im ersten Bildungssystem haben wir beides: Wir haben die Schulpflicht, es gibt öffentliche und private Ausbildungsinstitutionen, vergleichbare Abschlüsse, messbare Standards und Qualitätssicherungssysteme, wir haben staatliche Finanzierungsmechanismen, Anreizsysteme und eine funktionierende Begabtenförderung. Aus all diesen Bestandteilen setzt sich das Bildungssystem zusammen. Wenn wir uns aber den Bereich der Weiterbildung anschauen: Da gibt es das so durchdekliniert nicht. Entscheidend für die Zukunft ist hier aber der systemische Blick auf die Rahmenbedingungen. Man könnte es auch schlicht als zweites Bildungssystem bezeichnen. Das erste Bildungssystem ist das bereits bestehende mit seinen schulischen und akademischen Abschlüssen, das zweite folgt dann im Laufe des Berufslebens.

Werden Sie konkreter: Was gehört alles zu einer solchen systemischen Weiterentwicklung?
Erstens brauchen die Hochschulen bessere Anreize, die Weiterbildungsangebote voranzutreiben. Zweitens brauchen wir finanzielle und zeitliche Anreize für die Arbeitnehmer, sich in den Zukunftskompetenzen weiterzubilden. Drittens müssen wir akademische und berufliche Weiterbildungsformate verschmelzen lassen. Und viertens muss sich etwas ändern in der Verbindlichkeit: Der Staat könnte zum Beispiel im Öffentlichen Dienst, wo er ja als Arbeitgeber die Hoheit hat, bestimmte Weiterbildungen vorschreiben.

So wie bei den Ärzten …
… die sich weiterbilden müssen, weil sie sonst ihre Zulassung verlieren, genau! In eingeschränktem Maße gibt es eine solche Weiterbildungspflicht etwa auch bei Lehrern. Ich finde, wir müssen darüber nachdenken, wie man über diese Berufsfelder hinaus die Schule des Lebens, die alle ständig fordern, systematisieren könnte – mit Anreizen, mit Verbindlichkeiten, Qualitätssicherung und mit institutionellen Anerkennungsformen.

Widerspricht das nicht dem Beispiel der amerikanischen Firmen, das Sie anführten – mit einer allmählichen Loslösung von solchen Regulationen?
Aber mit einer Systematisierung meine ich ja keine bürokratischen Hürden oder irgendwelche Einschränkungen. Es geht um das genaue Gegenteil: Lassen Sie uns doch ein „ermöglichendes System“ erfinden! Eines, das dem Einzelnen und den Institutionen, in denen man arbeitet, für das Weiterlernen bestmögliche Unterstützung und einen verlässlichen Rahmen bietet, das umgekehrt dieses lebensbegleitende Lernen aber auch einfordert.

Volker Meyer-Guckel (Foto: Damian Gorczany)
Volker Meyer-Guckel (Foto: Damian Gorczany)
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Sehen viele Personalchefs eine Fortbildung nicht immer noch als verlorenen Tag, an dem der Mitarbeiter nicht dem Unternehmen dient?
So sieht das heute eigentlich niemand mehr. Im Gegenteil: Es gibt zum Beispiel Start-ups, in denen die Mitarbeiter vier Tage in der Woche für die Firma arbeiten und sich am fünften Tag bezahlt mit ihren eigenen Projekten auseinandersetzen oder etwas dazulernen können. Die Firmen versprechen sich viel davon, wenn ihre Mitarbeiter dadurch wachsen.

So etwas funktioniert aber nur in bestimmten, vor allem akademischen Berufen, oder?
Die Bereiche verschmelzen doch längst! Neulich erst habe ich ein tolles Beispiel gesehen, bei dem zwei Hochschulen einen Studiengang angeboten haben, in dem IT-Kenntnisse für Handwerker vermittelt werden. Das finde ich grandios! Ein Klempner muss künftig IT-Spezialist sein, denn im Zeitalter von Smarthomes besteht eine Heizung nicht mehr nur aus Rohren, sondern hat eben auch ein angeschlossenes Datensystem. Ich würde mir wünschen, dass die Hochschulen viel mehr in solchen übergreifenden Kategorien denken und nicht mehr nur dezidiert Weiterbildung für Akademiker anbieten, falls sie überhaupt etwas anbieten.

Verlassen die Hochschulen damit nicht den Bereich, für den sie originär zuständig sind?
Aber sie sind doch auch für Weiterbildung zuständig! In den Hochschulgesetzen aller Länder steht: Die Aufgaben der Hochschulen erstrecken sich auf die Felder Forschung, Lehre, Wissenstransfer und Weiterbildung. Die Weiterbildung ist schlichtweg Aufgabe der Hochschulen, Punkt!

Ihr Marktanteil in der Weiterbildung liegt aber bei gerade einmal 2 bis 3 Prozent …
… und das ist beschämend! Staatliche Hochschulen behaupten ständig, man könne mit Weiterbildung kein Geld verdienen, und die Nachfrage sei begrenzt. Gleichzeitig rollen private Hochschulen immer mehr erfolgreiche Angebote aus und eröffnen in jeder größeren Stadt des Landes einen Standort. Das zeigt doch: Wenn man es richtig macht, kann man auch als staatliche Hochschule mit Weiterbildung genügend Einnahmen erzielen – auch ohne öffentliche Subventionierung, denn so sieht es das Gesetz vor. Zweitens haben sie gegenüber privaten Konkurrenten große Vorteile, denn sie können den Bereich großartig mit ihrer Forschung verknüpfen. Um diese Potenziale zu heben, sollte die öffentliche Forschungsförderung zukünftig auch den Transfer über Qualifizierungsangebote einfordern. Auch der strategische Austausch zwischen den Hochschulen zum Thema Weiterbildung sollte gefördert werden. Der Stifterverband prüft derzeit gemeinsam mit den Hochschulen die Idee eines Weiterbildungs-Audits.   

„Ich bin froh, wenn ich jeden Tag etwas hinzulerne. “

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Volker Meyer-Guckel (Foto: David Ausserhofer)
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Volker Meyer-Guckel

Es gibt Hochschulen, die Kurse zur gesunden Stressbewältigung oder ein Präsentationstraining anbieten. Ist das wirklich Aufgabe einer Hochschule?
Die Frage zielt ja darauf, welche Marktmodelle funktionieren und welche nicht. Bislang haben viele Hochschulen, wenn sie denn Weiterbildung anbieten, auf komplette Studienabschlüsse gesetzt. Aber dafür gibt es natürlich eine begrenzte Nachfrage: Nicht viele können sich mehrere Jahre lang neben ihrem Beruf ein komplettes Weiterbildungsstudium vorstellen. Besser funktionieren abgegrenzte Module, die man einzeln belegen kann und die separat zertifiziert werden. Manchen Interessenten reicht das aus. Und wer doch einen Abschluss anstrebt, der kann diese einzelnen Module zu einem kompletten Studium zusammensetzen.

Manche Firmen ergreifen selbst die Initiative und bieten eigene Kurse an, in denen erfahrene Mitarbeiter ihre Kollegen weiterbilden.
Das geschieht immer häufiger, vor allem unter Nutzung intelligenter Lernsysteme und digitaler Plattformen. Auch hier gilt: Das Maß aller Dinge sind die Kompetenzen, die jemand vermittelt bekommt, und nicht der Weg, wie er sie sich aneignet. Dabei werden digitale Angebote eine immer entscheidendere Rolle einnehmen. Es gibt im digitalen Raum übrigens vermehrt Bildungsanbieter, von denen man nie geglaubt hätte, dass sie etwas mit Weiterbildung zu tun haben.

Jetzt bin ich gespannt!
Bei Jobnetzwerken wie Linked­In denkt jeder an Recruiting-Portale: Ich stelle meinen Lebenslauf ein und finde dadurch einen besseren Job. Das war ja auch die Ursprungsidee. Doch inzwischen passiert Folgendes: In einer Anzeige sucht eine Firma einen IT-Manager, der sich im Datenmanagement auskennt, Webseiten programmieren und noch vier weitere Kompetenzen nachweisen kann. Wenn jemand von diesen sechs gefragten Kompetenzen nur fünf mitbringt, werden ihm auf diesen Plattformen automatisch Kurse angezeigt, in denen er sich die fehlenden Kenntnisse aneignen kann.

… und dafür wieder an die Uni muss?
Nein, gerade nicht! Da findet man zum Beispiel von Firmen produzierte Videos, wo einem jemand erklärt, wie etwas funktioniert. Es gibt auch Universitätskurse mit aufwendigen Lernumgebungen, wo ein konkreter Mentor dahintersteht, der individuelle Nachfragen beantwortet. Manches ist kostenlos, manches muss man bezahlen. Nicht selten finden sich dort übrigens Kursangebote von ausländischen Universitäten. Interessant sind Plattformen wie „Academy Cube“ deshalb, weil sowohl Unternehmen als auch Bildungseinrichtungen dort ihre Weiterbildungsangebote einstellen – und jeder kann mit einem Klick entscheiden, was ihm davon zusagt. Das ist die Zukunft!

Aber niemand sagt mir, ob die Inhalte, die ich lerne, auch wirklich hochwertig sind. Ist das nicht ein großes Manko?
Das Problem haben Sie auch im Bereich der zertifizierten Hochschulbildung. Auch im ersten Semester Anglistik können Sie in die langweilige Vorlesung eines Professors geraten, der sie seit Jahrzehnten unverändert so hält. Ich bin überzeugt, dass jeder schnell erkennt, was von hoher Qualität ist und was nicht.

Ertappen Sie sich manchmal selbst bei dem Gedanken: Nein, mit lebenslangem Lernen will ich mich jetzt nicht auch noch auseinandersetzen?
Nein, im Gegenteil: Ich bin froh, wenn ich jeden Tag etwas dazulerne. Es gibt doch da diese wunderbare Geschichte von Bertolt Brecht.

Welche meinen Sie?
Die „Geschichten vom Herrn Keuner“. Darin trifft der Protagonist einen Bekannten, der ihm sagt: „Sie haben sich ja gar nicht verändert!“ Daraufhin erblasst Herr Keuner peinlich berührt. Ich finde, in diesen kurzen Zeilen steckt viel Wahres: Sich weiterzuentwickeln ist etwas, das uns alle antreiben sollte.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in: CARTA 2020 - Wieder mal moderne Zeiten

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