Wissenschaftskommunikation

Die Tiefseetaucherin

Antje Boetius (Foto: Christian Bohnenkamp)
Antje Boetius (Foto: Christian Bohnenkamp)
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Ihr großes Büro mit dem spektakulären Blick auf die gewaltige Wesermündung vor Bremerhaven hat Antje Boetius verlassen, wieder einmal. Jetzt geht sie durch die Halle mit dem breiten Rolltor und dem Betonboden, umgeben von riesigen Regalen voller Taue, Messgeräte und geheimnisvoller Kisten. Ein bloßer Lagerraum ist es, aber hier auf dem Gelände des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) wirkt er wie eine steingewordene Verheißung von endloser Weite, von Abenteuern auf hoher See. Gleich vor dem Tor legen die Forschungsschiffe an, und Antje Boetius strahlt. Die meiste Zeit verbringt sie als Direktorin des AWI inzwischen in ihrem Büro, aber immer wieder lässt sie sich hier in den Lagerräumen den Duft der Meeresexpeditionen um die Nase wehen.

„Die Meeresforschung hat mich schon als Kind fasziniert“, sagt die Meeresbiologin: „Ich habe bei Jules Verne über Kapitän Nemo und sein U-Boot gelesen, mit dem er wochenlang abtauchen konnte und in vielen Kilometern Tiefe eine Welt entdeckt hat, die noch niemand gesehen hatte.“ Gleich im Studium stürzte sie sich darauf, selbst die Welt unter der Wasseroberfläche zu erkunden – und auch wenn Jules Verne damals im 19. Jahrhundert für seinen Kapitän Nemo eine Fantasiewelt ersann, ist eins doch bis heute gleich geblieben: Weite Teile der Unterwasserwelt sind nicht erkundet. Antje Boetius und ihre Forscherkollegen sind es, die auf spektakulären Expeditionen häufig als erste Menschen den Boden der Meere zu Gesicht bekommen. Sie selbst war 2016 zuletzt unterwegs – und sie schrieb im Internet eine Art Logbuch, damit alle teilhaben können an den Wundern, die sich vor ihr erstreckten:

Wir sind ein Team von 46 Wissenschaftlern und Technikern aus fünf verschiedenen Ländern und nun gemeinsam im Nansen-Becken der zentralen Arktis unterwegs. […] Tief unter der Wasseroberfläche an den Spreizungszonen der Ozeanplatten entsteht neuer Meeresboden. Die Kraft der tektonischen und vulkanischen Bewegungen formt dabei untermeerische Gebirge, die wir „Ozeanrücken“ nennen – sie durchziehen alle Ozeane. Der Gakkelrücken der Arktis ist noch immer ein Geheimnis, weil er fast unzugänglich ist – außer für das Forschungsschiff Polarstern.

Ein gewaltiges Forschungsschiff

Das deutsche Forschungsschiff Polarstern in der zentralen Arktis, Aufnahme von der Sommer-Expedition 2015
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Das deutsche Forschungsschiff Polarstern in der zentralen Arktis (Foto: Alfred-Wegener-Institut / Mario Hoppmann (CC-BY 4.0)
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Ein Eisbrecher ist die Polarstern, ein gewaltiges Forschungsschiff, das bis in den letzten Winkel ausgestattet ist mit Hightechgeräten, die viele Tausend Meter tief tauchen können, und den modernsten Laboren, damit die Wissenschaftler die Proben vom Meeresboden gleich untersuchen können. Unbekannte Lebensräume im Meer gibt es noch jede Menge: unter dem Eis der Polarmeere genauso wie im sturmgepeitschten Südozean. Antje Boetius hat sie alle bereist, in den zurückliegenden Jahren kümmerte sie sich aber vor allem um die Polarmeere.

Der Moment, in dem der Meeresboden eines unbekannten Meeresgebietes erstmals auf den Bildschirmen auftaucht, ist einfach wundervoll: Man weiß nie, was einen erwartet, außer dass es etwas Neues ist. Bei den ersten Bildern vom Karasik-Seeberg trauen wir unseren Augen nicht: Der Gipfel ist über und über mit riesigen kugeligen Schwämmen bewachsen, die wir sogar im Sonar erkennen können. Zwischen den Schwämmen liegen zentimeterdicke Matten aus Nadeln und Wurmröhren. Wir haben verschiedene Fischarten beobachten können, die hier nicht zu erwarten waren, und einen Blick auf die nördlichsten bisher entdeckten Korallen erhascht. Es tummeln sich große weiße Seesterne, blaue Schnecken, rote Krebse und weiße und braune Muscheln zwischen den Schwämmen.

Antje Boetius hat sich in der Lagerhalle am AWI in Bremerhaven auf einen Hocker gesetzt. Seit sie vor einigen Jahren Direktorin des renommierten Instituts wurde, ist sie nicht mehr so oft bei Expeditionen dabei: Eine wochen- oder gar monatelange Abwesenheit kann sie sich schlicht nicht leisten. Aber was ihre Kollegen mitbringen von ihren Reisen, das lässt sie sich genauestens erzählen – und immer wieder denkt sie auch an ihre eigenen Erfahrungen zurück. „Wenn man abtaucht in die Tiefsee“, sagt sie, „wird es als Erstes stockfinster. Aber dann, wenn man immer weiter taucht, kommt man in die Regionen, wo die Tiere selbst leuchten. Oft sind es geleeartige Lebewesen, die ein Licht ausstrahlen, Quallen, Tintenfische, alles Mögliche. Oft muss man zweimal hinschauen, um zu erkennen, was das für ein Tier ist.“

Im Laufe ihrer Forschungskarriere hat sie viele Geheimnisse der Tiefsee erforscht: Lebensräume kartiert, Mikroorganismen identifiziert, die Tiefsee unter dem undurchdringlichen Eispanzer der Arktis erforscht, Bilder von Tiefseebergen, von Schwammriffen und von Korallenriffen gemacht. Nach Abenteuern hört sich das an, aber vor allem sind diese Tauchgänge eins: harte Arbeit. Eng durchgetaktet sind die Tauchgänge, auf denen Boetius und ihre Kollegen Proben nehmen und Experimente machen – so teuer ist die Zeit unter Wasser, dass auf den Expeditionen keine Minute ungenutzt verstreichen soll.

Logo Communicator-Preis
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Diese Forscher sind Stars. Denn sie arbeiten nicht nur in Labors, sitzen nicht nur in Bibliotheken. Stattdessen stehen sie als Medienprofis sehr oft auf den großen Bühnen des Landes. Sie können meisterhaft über Forschung reden, sie begeistern für das, was vielen Bürgern sonst nicht zugänglich wäre. Sie sind die besten Anwälte für die Sache der Wissenschaft. Solche begnadeten Wissenschaftskommunikatoren als Vorbilder zu adeln und ihr außergewöhnliches Engagement zu belohnen, war im Jahr 2000 die Idee des Stifterverbandes und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Seitdem vergeben sie gemeinsam jährlich den „Communicator-Preis – Wissenschaftspreis des Stifterverbandes“. Der Stifterverband steuert das Preisgeld bei (50.000 Euro), die DFG sucht die Preisträger aus. Antje Boetius erhielt den Communicator-Preis 2018. 

Wo das kalte Ozeanwasser mit heißem Gestein aus der tiefen Erde zusammenkommt, entsteht eine wahre Hexenküche. Aufgeheizte, energiegeladene Fluide strömen aus Rissen, Löchern und Kaminschloten zurück ins Meer. Der Typus der heißen Quellen hängt dabei von der vorhandenen Wärmemenge und der Art des anstehenden Gesteins ab, durch welches die Fluide zirkulieren. Nahe dem Vulkangipfel haben wir schon beim ersten Tauchgang am Meeresboden verschiedene bunte hydrothermale Ausfällungen entdecken können. Nun wollen wir natürlich auch noch die zugehörigen Quellen am Meeresboden finden. Ihre Form, die Farbe ihrer Schlote und Rauchfahnen und die Lebewesen drum herum können uns viel über die geologischen Zusammenhänge verraten. Wir suchen dabei auch nach charakteristischen Lebensformen von Tieren und Bakterien, die zusammen die Produkte der chemischen Reaktionen im Meeresboden nutzen – wie Wasserstoff und Methan oder auch reduziertes Eisen und Schwefel.

An eine ihrer ersten Expeditionen erinnert sich Antje Boetius noch besonders gut. Einige Jahrzehnte ist das inzwischen her, sie war noch Studentin. „Da waren wir extrem weit draußen, mitten im Pazifik, weiter war ich noch nie vom Land entfernt. Ich sollte Tiefseetiere bestimmen lernen und sortieren“, erzählt sie und plötzlich wird ihre Miene ernst. Wie sie da im Labor saß und die faszinierenden Lebewesen aus vielen Kilometern Tiefe anschaute, fand sie mitten in den Proben plötzlich Plastikteile. „Ich dachte: Das gibt’s doch gar nicht, wo kommt das her? Wir sind doch hier so weit weg von den Menschen! Jetzt, viele Jahre später, wissen wir diese ersten Funde zu deuten. Damals hat das Problem mit dem Müll im Meer angefangen, bis heute hat es sich vervielfacht.“

„Wir bekommen so vieles aus den Ozeanen, und was machen wir? Wir überfischen, erwärmen, versauern und verschmutzen die Meere!“

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Antja Boetius (Foto: Stifterverband)
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Antje Boetius

Auch der Untereis-Roboter NUI hat sein schwieriges Werk aufgenommen und uns zwei hochauflösende Karten und ein Fotomosaik beschert. Es ist schon eine besondere Kombination von Extreme-Lebensraum-Forschung, wenn ein Teil der Forscher Tausende von Metern unter dem Schiff die seltsamen Lavafelsen nach heißen Quellen absucht, während gleichzeitig um das Schiff herum die anderen Mitfahrer in Eis und Schnee Kerne bohren, Bojen aussetzen und den gerade beginnenden Gefrierprozess an jungen Schollen beobachten. Wir sind jedenfalls alle froh, uns für Ruhepausen in den gemütlichen Bauch des Schiffes zurückziehen zu können. Denn inzwischen ist der arktische Herbst eingekehrt; es gibt nur noch wenig Sonnenstrahlen, dafür viel Wind und Schnee, und die ersten Tage unter -10 °C. […] Drückt uns die Daumen, dass weiterhin Wind, Wetter und das Eis mitspielen.

 

70 Prozent der Erde, sagt Antje Boetius, seien von Ozeanen bedeckt. Das ist eine Zahl, die sie oft erwähnt, und trotzdem trägt sie sie voller Erstaunen vor: „Wie wenig wir über diese 70 Prozent wissen“, ruft sie aus. Dabei habe der Ozean mit uns allen zu tun, auch wenn es fast niemand ahne: „Jeder zweite Atemzug enthält Sauerstoff, der aus dem Meer kommt. Viele Waren und Stoffe für unser tägliches Leben sind über das Meer gekommen. Wir bekommen so vieles aus den Ozeanen, und was machen wir? Wir überfischen, erwärmen, versauern und verschmutzen die Meere!“ 

Das, was Antje Boetius in ihrer Forschung kartiert und aufzeichnet, ist in vielen Fällen die letzte Sonde in einen Lebensraum, der schon bald verschwinden wird – zur Unkenntlichkeit verändert oder ganz zerstört. Das Wissen darum hat Boetius schon früh geprägt: Sie wurde zur leidenschaftlichen Erzählerin. „Ich rede gern darüber, wie fantastisch es ist, im U-Boot abzusinken, was man da entdeckt und sieht. Die Zuhörer kann ich so mit mir auf Tauchgang nehmen, das Entdeckergefühl ist für alle spannend. Aber ich sage auch immer dazu: Wir Menschen haben es in der Hand, all das zu verändern, was wir dort unten finden – und derzeit verändern wir es nicht zum Guten.“

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Foto: Stifterverband
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Antje Boetius in der Reihe "Forschergestalten"

Die Schwämme sowie ihre Mitbewohner leben auf Schichten von Ablagerungen vergangener Gemeinschaften aus Moostierchen, Schwammnadeln und Röhren von Borstenwürmern, die mit mehreren Zentimetern die dünne Sedimentauflage bedecken. Darunter ist basaltisches Gestein. Uns interessiert einfach alles, was hier lebt. Auch die höchstens einen Millimeter großen Tiere, die in den Zwischenräumen zwischen Schwamm und Schlamm vorkommen: winzige Ruderfuß- und Flohkrebse, Fadenwürmer, Asseln, Milben und viele andere mehr. Einige konnten wir sogar hier an Bord bereits unter der Stereolupe aussortieren. Bei unserer Reise in die Welt der Kleinstlebewesen bis hin zu den Mikroorganismen von einem Mikrometer Zelldurchmesser stellen wir fest, dass die größeren Tiere am Seeberg den Mikroben kaum etwas zu fressen übrig lassen. Das Sediment unter den Schwämmen ist extrem nahrungsarm.

„Viele wissen gar nicht, wie viele Lasten der Ozean eigentlich trägt.“

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Antja Boetius (Foto: Stifterverband)
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Antje Boetius

Wer die paar Schritte hinübergehen würde von der Lagerhalle am Rand des Meeres zu Antje Boetius’ Büro im Hauptgebäude des AWI, der könnte dort die Einladungen sehen, die hier in Bremerhaven eingehen. Stapelweise Briefe sind es von Interessenten, die mit ihr sprechen wollen: Politiker fast aller Parteien, Unternehmen aus allen Branchen, Schulen laden sie zu Vorträgen ein. „Ich habe gemerkt, dass es die Menschen berührt, auf der einen Seite die Schönheit zu sehen, aber auf der anderen Seite auch die Auswirkungen unseres Verhaltens. Dabei kommt man gut ins Gespräch.“ Das niederländische Königspaar war unlängst am AWI, Boetius referierte vor dem Bundespräsidenten und vor den Vereinten Nationen. Genauso trat sie aber neulich beim Sommerfest eines Dorfes am Wattenmeer auf oder unterhielt sich auf dem Frühschoppen einer Bremerhavener Seniorengemeinschaft mit den Interessenten. „Ich nehme alles an Einladungen an, was ich nur in den Kalender kriege“, sagt Antje Boetius. Sie erzählt bei diesen Terminen oft von der „Last des Ozeans“, wie sie es nennt: dass er nicht nur Wärme aufnimmt, sondern auch CO2. Dazu kommen der Müll, die Eutrophierung – also die Übersättigung mit Nährstoffen – und die Überfischung. „Viele wissen gar nicht, wie viele Lasten der Ozean eigentlich trägt.“

"Das ist ein Team, mit denen ich mehr als 20 Jahre zusammenarbeite. Es ist jedes Mal wie ein Familientreffen, wenn ich an Bord gehe.“
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Foto: Stifterverband
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Sie selbst bereitet gerade ihre nächste Expedition vor: 2023 soll es losgehen, genau zehn Jahre nach ihrer letzten Arktisexpedition. Was hat sich seither verändert, welches Bild wird sich ihr bieten? Das sind die Fragen, die sie mit ihren Kollegen untersuchen will. Auf dem Forschungsschiff wird sie nicht die Mahnerin sein, sondern ganz die nüchterne Wissenschaftlerin: Sie wird kartieren, was sich verändert hat. Und auch wenn sie manchmal fürchtet, was sie alles an schlechten Nachrichten entdecken wird, freut sie sich auf die Expedition. „Das geht schon los, wenn man aufs Schiff kommt“, sagt sie: „Das ist ein Team von Seeleuten, mit denen ich mehr als 20 Jahre zusammenarbeite. Es ist jedes Mal wie ein Familientreffen, wenn ich an Bord gehe.“ Und ein besonderes Highlight, erzählt sie, sei es dann, wenn das Schiff sich dem Eis nähere. „Lange bevor man es sieht, fühlt man, dass es kommt. Die Farbe des Himmels und des Meeres verändert sich, der Wellenschlag wird ruhiger, die Geräusche werden dumpfer. Und dann fährt man mittendrein in die gefrorene Landschaft.“

Das sind die Momente, in denen der Kindheitstraum wieder naherückt: der Traum von Kapitän Nemo, von den Abenteuern in Gebieten, die noch kein Mensch zuvor gesehen hat.

Weblink für die Logbücher/ Wochenberichte

Über diese Serie

20 Jahre Communicator-Preis - Grund genug für MERTON, die bisherigen 20 Preisträger in einer besonderen Bild- und Artikelserie zu würdigen. Nicht nur der Fotograf Christian Bohnenkamp setzt die Protagonisten in stimmungsvolles Licht, auch der Autor Kilian Kirchgeßner bringt sie in seinen Texten zum Leuchten. Wer die ausdrucksstarke Bilder einmal aus der Nähe sehen will: Das Wissenschaftszentrum Bonn präsentiert die Werke voraussichtich im Sommer 2021 in einer kleinen Retrospektive. 

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