Wissenschaftskommunikation

An den Brennpunkten

Porträt Steffen Mau vor Illustration mit roten Punkten
Foto und Illustration: Gesine Born
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Die Postkarten aus Japan kamen jedes Jahr, immer zu Weihnachten, seit 1993 ging das so. Steffen Mau war noch Student damals, aber weil sein Professor das große Talent erkannte und Mau außerdem aus Ostdeutschland kam, ließ er ihn an großen Studien mitarbeiten. „Der demographische Wandel in Ostdeutschland“ hieß eine dieser Arbeiten, die damals kurz nach der Wiedervereinigung hohe Wellen schlug. Ein japanischer Fernsehsender wollte ein Interview dazu machen, und weil der Professor gerade im Urlaub weilte, trat Steffen Mau vor die Kamera. Es war sein allererstes Interview, und der japanische Sender schickte ihm zum Dank noch Jahre später seine Grußkarten.

Heute sitzt Steffen Mau vor seinem Schreibtisch und seufzt. „Allein am Vormittag kamen schon fünf Anfragen für Interviews rein“, sagt er. Eine Zeitung aus Bayern zum Beispiel möchte von ihm etwas über Grenzen wissen, ein norddeutscher Sender will ihn in dem Plattenbauviertel bei Rostock portraitieren, in dem er als Kind aufgewachsen ist. Und dann diese anderen Bitten alle, Steffen Mau klickt durch seinen Mailordner: Stiftungen aus ganz Deutschland wollen ihn für eine Podiumsdiskussion gewinnen, Buchhandlungen seinen jüngsten soziologischen Bestseller mit einer Lesung vorstellen, engagierte Vereine irgendwo in Kleinstädten mit ihm über seinen Blick auf Ost und West sprechen. „Ich würde ja sehr gerne“, sagt Steffen Mau, „aber das schaffe ich einfach nicht alles.“

„Stiftungen aus ganz Deutschland wollen ihn für eine Podiumsdiskussion gewinnen, Buchhandlungen seinen jüngsten soziologischen Bestseller mit einer Lesung vorstellen, engagierte Vereine irgendwo in Kleinstädten mit ihm über seinen Blick auf Ost und West sprechen.“

Neben seinem Bildschirm türmen sich stapelweise Bücher, durch das Fenster hört er das Rumpeln der S-Bahnen, die zwischen der Friedrichstraße und dem Hackeschen Markt unterwegs sind. An der Berliner Humboldt-Universität forscht Steffen Mau, und mit seinem Lehrstuhl hat er einen unscheinbaren Altbau in zentralster Lage bezogen. Seine Fenster bilden einen Erker, verhangen sind sie von orangenen Rollos.

„Die müssen hier drinbleiben, das will der Denkmalschutz so“, sagt er. Und so hat er hier, im orangefarbenen Licht, seine Schaltzentrale eingerichtet, in der er seine Vorlesungen plant, alle Interview- und Diskussionsanfragen koordiniert, sich mit seinen Mitarbeitern zu den nächsten Forschungsprojekten austauscht und vor allem jede Menge schreibt. In seinem Buch „Lütten Klein“ – benannt nach dem Rostocker Viertel seiner Kindheit – seziert er mit drei Jahrzehnten Abstand die deutsche Einheit. „Wer den Osten verstehen will“, so urteilten Kritiker, „der sollte dieses Buch lesen.“

Die Bilanz der Einheit ist nicht nur durchwachsen, sie ist auch durch und durch widersprüchlich. (…) Um diese Diskrepanz zu entschlüsseln, ist der Begriff der gesellschaftlichen Fraktur hilfreich. Unter einer Fraktur versteht man in der Medizin den Bruch eines Knochens. Viele Frakturen sind unter der Haut verborgen und äußerlich nicht erkennbar, manche aber liegen offen. Oft verheilen sie, wenn es jedoch zu Verschiebungen – der Terminus technicus lautet Frakturdislokationen – kommt, muss man ein Leben lang mit Funktionseinschränkungen leben. Gesellschaftliche Frakturen lassen sich in diesem Sinne als Brüche des gesellschaftlichen Zusammenhangs verstehen, die zu Fehlstellungen führen können. (Aus: „Lütten Klein“)

Logo Communicator-Preis
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Diese Forscher sind Stars. Denn sie arbeiten nicht nur in Labors, sitzen nicht nur in Bibliotheken. Stattdessen stehen sie als Medienprofis sehr oft auf den großen Bühnen des Landes. Sie können meisterhaft über Forschung reden, sie begeistern für das, was vielen Bürgern sonst nicht zugänglich wäre. Sie sind die besten Anwälte für die Sache der Wissenschaft. Solche begnadeten Wissenschaftskommunikatoren als Vorbilder zu adeln und ihr außergewöhnliches Engagement zu belohnen, war im Jahr 2000 die Idee des Stifterverbandes und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Seitdem vergeben sie gemeinsam jährlich den Communicator-Preis – Wissenschaftspreis des Stifterverbandes. Der Stifterverband steuert das Preisgeld bei (50.000 Euro), die DFG sucht die Preisträger aus.

Allmählichkeitsschäden in der Demokratie

Die „gesellschaftlichen Frakturen“: Solche Begriffe sind es, die Steffen Mau immer wieder setzt. Sie sollen hängenbleiben im Gedächtnis des Lesers, sie sollen die trockene soziologische Forschung anschaulicher machen, vorstellbarer. Manchmal erfindet er dafür Wörter, er spielt dazu mit seinen Gedanken, er schnappt etwas auf und würfelt es neu zusammen, und immer rufen seine Begriffe sofort Bilder und Assoziationen hervor. Der „nörgelnde Eckensteher“ etwa: ein Bürger, der unzufrieden ist mit seinem Leben und der Politik, sich absondert und schimpft. Oder: „Krisen als Vereinigungsgenerator“, wenn gemeinsame Erlebnisse und Traumata eine Gesellschaft zusammenschweißen. AFD-Politiker nennt er „Polarisierungsunternehmer“, die aktiv spalten und aus dem entstehenden Scherbenhaufen ihren Profit schlagen. Sein Schlagwort von der „veränderungserschöpften Gesellschaft“ hat es mittlerweile ins Vokabular vieler Politiker und Kommentatoren geschafft.

Neulich war Steffen Mau wieder einmal auf der Suche nach einem einprägsamen Begriff. Er soll ausdrücken, wie der Zusammenhalt in der Gesellschaft angesichts der vielen Konflikte allmählich erodiert, wie das Vertrauen in Politik und Demokratie beschädigt wird und wie sich diese Entwicklungen selbst verstärken. „Durch Zufall bin ich da auf einen Begriff aus der Versicherungswirtschaft gestoßen. Dort ist von Allmählichkeitsschäden die Rede – ist das nicht ein tolles Wort?“ Er hat es kurzerhand auf seinen Forschungsgegenstand übertragen: die Allmählichkeitsschäden in der Demokratie.

„Begriffe sollen im Gedächtnis des Lesers hängenbleiben, sollen die trockene soziologische Forschung anschaulicher machen, vorstellbarer. Manchmal erfindet er dafür Wörter, er spielt dazu mit seinen Gedanken, er schnappt etwas auf und würfelt es neu zusammen, und immer rufen seine Begriffe sofort Bilder und Assoziationen hervor.“

Im gegenwärtigen politischen Diskurs haben die rechten Populisten ein Angebot in der Tasche, das kaum zu schlagen zu sein scheint, weil es die Menschen von Zumutungen entlastet. Sie sagen: „Die Welt muss verändert werden, um sich an dich anzupassen!“ Die Liberalen, egal ob Marktliberale oder aufgeklärte Kosmopoliten, haben hingegen eine andere Botschaft: „Du musst dich ändern, um dich an eine sich wandelnde Welt anzupassen!“ (…) In einer Teilgesellschaft wie der ostdeutschen, die in den zurückliegenden dreißig Jahren einen regelrechten Transformationsgalopp durchgemacht hat, trifft diese Botschaft auf Erschöpfung, auf eine Haltung des „Nicht schon wieder“. (Aus „Lütten Klein“)

Gedankenaustausch mit dem Kanzler

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Vor ein paar Jahren, sein Buch über Ostdeutschland kletterte auf der Bestsellerliste höher und höher, lief eine besondere Anfrage bei Steffen Mau auf: Der Bundesfinanzminister hatte das Buch gelesen und fragte den Wissenschaftler, ob er nicht etwas Zeit fände für einen Gedankenaustausch. Der Name des Ministers: Olaf Scholz. „Wir saßen dann bald danach in Bad Saarow am Ufer des Scharmützelsees und haben uns unterhalten, anderthalb Stunden hat das Gespräch gedauert“, sagt Steffen Mau. Später, als Scholz schon Bundeskanzler war, wurde Mau in den Sachverständigenrat für Integration und Migration berufen.

Erst vor wenigen Wochen war er in Meseberg zu Gast, dem Schloss in Brandenburg, in das sich die Regierung regelmäßig zu Beratungen zurückzieht. Mau saß dort, umgeben von den Kabinettsmitgliedern, und redete über seine Forschung, über seine Befunde. „Die Frage Nummer eins ist immer – ob nun bei der Regierung oder auf einem Podium in einer Buchhandlung – die nach der unmittelbaren Ableitung von Ideen“, sagt Steffen Mau. Aber Handlungsempfehlungen wolle er nicht geben, könne es auch nicht. „Ich kann ein Interpretationsangebot machen, die Perspektive weiten.“ Er hält inne, überlegt kurz und schiebt dann wieder ein solches Mau-Wort nach: „Ich biete Orientierungswissen an, kein normatives Haltungsgerüst.“

Das tut er nicht nur vor Politikern: Allein für sein Buch „Lütten Klein“ stand er mehr als 40 mal auf der Bühne für Lesungen und Diskussionsveranstaltungen: in Buchhandlungen, Kulturzentren, Mehrzweckhallen, alten Kirchen – „überall, wo man mich eingeladen hat.“ In den Diskussionen ging es schnell nicht mehr nur um Ost und West, sondern auch um alle die anderen Themen, zu denen Steffen Mau forscht: um die Ungleichheit, um die Migration, generell um das Gesellschaftsbild. Und immer wieder bekommt er ordentlich Gegenwind in den Diskussionen, regelmäßig gibt es Zuhörer, die wüst schimpfen. „Der Rededruck ist hoch“, konstatiert Mau dazu trocken.

Das Versprechen der Demokratie ist ja nicht nur das der Beteiligung an der politischen Macht, sondern auch das des guten Regierens. In der Politikwissenschaft gibt es den Begriff der Output-Legitimität. Das ist die Legitimität, die die Politik dadurch gewinnt, dass sie Probleme löst und effektiv handelt. In dieser Hinsicht gibt es schon eine Enttäuschungshaltung. (…) Mit Verwaltungshandeln allein lässt sich eine Krise kaum lösen, da kann man sie höchstens bürokratisch verstolpern. (Interview mit der Berliner Zeitung, April 2021)

Seine ersten gesellschaftlichen Beobachtungen machte Steffen Mau, als er noch lange kein Soziologe war. In den 1980er Jahren war das, Mau war Teenager und absolvierte seine Ausbildung zum Schiffselektriker in einer Werft in Rostock. Das Meer, die Schifffahrt: Klar, die Berufswahl lag nah dort im hohen Norden Deutschlands, vor allem, wenn der Vater selbst im Schiffbaubetrieb tätig war. Steffen Mau merkte schon damals, wie in der DDR etwas in Bewegung geriet. Er wollte dabei sein, direkt am Puls. „Freunde von mir lebten im Prenzlauer Berg in Ostberlin, damals war das ein ziemlich renovierungsbedürftiges Arbeiterviertel“, sagt er. Eines Tages machten sie ihn darauf aufmerksam, dass eine Wohnung in ihrem Haus frei geworden sei. Der Vorbesitzer, auch er ein junger Mann, hat es über die Grenze in den Westen geschafft. Zu dieser Zeit, erinnert sich Mau, gab es viele solcher Wohnungen, die von Flüchtigen einfach zurückgelassen wurden. „Die Wohnung fand ich gut, Berlin war spannend, und so habe ich einfach ein neues Schloss in die Tür eingebaut und angefangen, dort zu wohnen“, erinnert er sich. Dort, im Prenzlauer Berg und umgeben von jungen Leuten, spürte er die tektonischen Verschiebungen in der DDR-Gesellschaft, er nahm die feinen seismographischen Wellen auf. Max Weber las er und Pierre Bourdieu, und als die Wende kam und er endlichen studieren konnte, was er wollte, schrieb er sich für Soziologie ein. Drei Jahre sollte es von diesem Moment an noch dauern bis zu jenem ersten Interview mit dem japanischen Fernsehsender.

Eine fundamentale Polarisierung wie in den USA, mit Lagern, die einander nichts zu sagen haben, gibt es in Deutschland so nicht. Was man trotzdem findet, sind Ränder, die sich immer stärker radikalisieren. Der alte Klassenkonflikt spielt dabei kaum mehr eine Rolle, es ist schwierig, damit zu mobilisieren. Stattdessen haben wir zwei große Konflikte: Migration und Klimapolitik. Und die sind zunehmend miteinander verkoppelt. Das heißt, Leute, die positiv gegenüber Migration eingestellt sind, setzen sich auch stärker für Klimaschutz ein. (Interview mit der Süddeutschen Zeitung, August 2023)

„Und immer wieder bekommt er ordentlich Gegenwind in den Diskussionen, regelmäßig gibt es Zuhörer, die wüst schimpfen.“

Auf vielen Baustellen unterwegs

Seine Promotion schrieb Steffen Mau über den Wohlfahrtsstaat. Ein Thema, von dem er damals noch nicht ahnte, dass es der Kristallisationspunkt werden sollte für viele der großen Konflikte, mit denen er in den Jahren danach zu tun haben würde: Gleichheit und Gerechtigkeit, das Abgehängt-Sein, Migration, Grenzen – alles das hat Bezugspunkte zum Wohlfahrtsstaat. Steffen Mau sagt das natürlich anders, er sagt: „Konflikte sind das Grundrauschen gesellschaftlicher Veränderungen.“ Wenn sich also etwas verschiebt, wenn Besitzstände in Gefahr geraten, dann gehen die Kämpfe los. Und weil gerade jetzt unheimlich viele Veränderungen gleichzeitig vor sich gehen, brechen auch immer neue Konflikte auf. „Die derzeitige Situation ist für Soziologen sehr stimulierend“, sagt Steffen Mau: Wo er auch hinschaut, findet er Forschungsgegenstände. Und während sich viele Soziologen auf nur eine Methode, auf einen Datensatz oder eine Theorieschule konzentrieren, ist Steffen Mau auf vielen Baustellen unterwegs. „Ich bin sehr themengetrieben“, sagt er: „Ich suche Phänomene, die mich ansprechen und zu denen ich etwas beitragen kann.“

Und das mit den Konflikten, sagt er, habe durchaus auch etwas Positives. Konflikte seien Motoren der Integration: Wer diskutiert, der baue eine soziale Beziehung mit anderen auf – und lege damit die Grundlage für ein „pazifizierendes Arrangement.“

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Steffen Mau (Foto: Screenshot)
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„Die Dinge zum Knistern bringen“

Steffen Mau im Video-Porträt

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