Lernorte

Studierende als Digital Officer

Studierende mit VR-Brille
Foto: iStock/GrapeImages
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Erster Seminartag: Moodle- und Mailserver der Uni sind komplett überlastet, die Kommunikation mit den Studierenden ist unmöglich – das twitterte Lucas Franken, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum am Lehrstuhl für iberoromanische Literatur- und Kulturwissenschaften, am 20. April. Er hofft, dass sich „der Wunsch nach einer #RuhrUniRemote in diesem #NichtSemester noch erfüllt“.

Ohne Frage, das Studium in Zeiten der Corona-Krise ist notgedrungen ein Experimentierraum, das aktuelle Präsenzverbot fordert selbst die Pioniere für digitale Lehrformate heraus. Sie berichten zuerst über aktuelle Erfahrungen, wie Muriel Helbig, Präsidentin der Technischen Hochschule Lübeck, jüngst in einem Blogbeitrag: „Wir wissen nicht genau, wie gut wir unsere Studierenden tatsächlich erreicht haben, wie konsequent sie in dieser Ausnahmesituation tatsächlich studieren konnten, wie erfolgreich unsere Kompetenzvermittlung war.“ Nichtsdestotrotz klappt vieles auch überraschend gut. Helbig schwärmt vom digitalen Ruck, der seit Wochen durch die Hochschule gehe: Plötzlich werde wahr, wovon man immer geträumt habe. 

Eine Sonderbefragung des Stifterverbandes im Rahmen des „Hochschul-Barometers“ zeichnet als langfristige Perspektive ebenfalls ein eher positives Bild: Von 168 Hochschulen, die teilnahmen, verstehen mehr als 90 Prozent die aktuelle Situation als Chance, sich im Bereich digitalen Lernens und Lehrens langfristig zu verbessern. Selbst wenn Präsenzzeiten und Prüfungen das gesamte Sommersemester über ausfallen sollten, könnten drei Viertel der Lehrveranstaltungen und knapp zwei Drittel der Prüfungen digital stattfinden, schätzten die befragten 168 Hochschulleitungen. Insgesamt machen sie immerhin 43 Prozent der deutschen Hochschulen aus.

 

Zentrale Ergebnisse der Sonderbefragung zum „Hochschulen-Barometer“
Grafik Hochschulbarometer
Grafik: Stifterverband
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Aktuell läuft Lehre vielerorts aber erst in einer frühen Experimentierphase. Wie gut oder schlecht das „Studium im Shutdown“ deutschlandweit funktioniert, thematisiert der gleichnamige Podcast der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Karlsruhe. In den Folgen berichten Studierende vom Lernen im Physial Distancing auf oft sehr engem Raum und darüber, wie sich der Alltag ohne Campusleben anfühlt. 

Auch die Zukunfts-AG #Digital Changemaker des vom Stifterverband mit gegründeten Hochschulforums Digitalisierung (HFD) vernetzt verstärkt Betroffene über die „HFD Student Community“. Mit einer CoronaCampus-Taskforce versucht die Zukunfts-AG zudem, möglichst schnell neue Angebote für Studierende in die Tat umzusetzen. Ein Beispiel ist der Onlinestudentenhangout „Digital Happy Hour – Let’s get digital“, der jetzt einmal pro Monat Campusfeeling verströmt und wo sich Teilnehmer und Teilnehmerinnen intensiv austauschen können. 

HFD-Programmmanagerin Yasmin Djabarian hört aus der Community von „viel Unsicherheit“ unter den Studierenden darüber, was zum Beispiel die eigene Finanzierung angeht, die kommenden Prüfungen oder das bereits geplante Auslandssemester. Gleichzeitig gebe es einen starken Wunsch nach Partizipation und Kollaboration, so Djabarian: „Studierende möchten, dass ihre Stimme laut gehört wird, dass die aktuellen Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse an Hochschulen transparent ablaufen und sie darin auch eingebunden werden.“ 

„Der Wunsch nach schnellen Entscheidungen ist verständlich. Allerdings wäre es gerade jetzt fatal, Studierende und andere Statusgruppen außen vor zu lassen.“

Leonie Ackermann
Leonie Ackermann (Foto: Sarah Bernhardt)
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Leonie Ackermann
Mitglied der studentischen Zukunfts-AG #Digital Changemaker des HFD und Vorstandsmitglied des freien zusammenschlusses von student*innenschaften (fzs)

Leonie Ackermann, Mitglied des Vorstandes des freien zusammenschlusses von student*innenschaften (fzs), gehört dazu. Als Digital Changemakerin wirbt sie für die Mitsprache von Studierenden, wie in der Krise Studiengänge und Prüfungsordnungen gestaltet werden können: „Der Wunsch danach, schnelle Entscheidungen zu treffen und Tatsachen zu schaffen, ist verständlich. Allerdings wäre es gerade jetzt fatal, Studierende und andere Statusgruppen außen vor zu lassen.“ Ackermann und ihre Mitstreiter mahnen in einem Blogbeitrag: Man dürfe die Chance nicht verspielen, dass aus der Ad-hoc-Digitalisierung auch eine gute nachhaltige digitale Lehre werden kann.

Leonie Ackermann
Leonie Ackermann (Foto: Sarah Bernhardt)
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Leonie Ackermann

Digitale Lehre muss keineswegs eine Einbahnstraße sein, bei der die Studierenden nur als Konsumenten an den Endgeräten sitzen – davon sind auch viele Hochschulen überzeugt. Sie haben das große Potenzial von Fähigkeiten und Kenntnissen unter den Studierenden für digitale Lehre längst erkannt und wollen es in der Krise auch unbedingt nutzen. Das Problem ist nur: Welche Wege sind hierfür schnell, effektiv und im eigenen Hochschulalltag praktikabel?

Annamarie Köster kennt das Problem. Sie leitet an der Hochschule Ruhr West (HRW) den Bereich E-Learning. Aus Hochschulsicht sei es wertvoll, Studierende, also die Zielgruppe, auch auf der strategischen Ebene für die digitale Lehre miteinzubeziehen: „Studierende haben sicherlich jetzt schon die Möglichkeit, auf dieser Ebene aktiv zu werden, tun dies aber selten.“ Die E-Learning-Expertin sieht hierfür zwei Gründe: Manche wüssten nicht, dass dies überhaupt möglich ist, andere wüssten vielleicht nicht, wie sie es tun sollen. „Dafür möchten wir nun Räume und Angebote schaffen“, sagt Köster. Aktuell sei der Einfluss der Studierenden eher auf einzelne Lehrende oder spezifische Projekte beschränkt, sie agierten also eher operativ als strategisch. Das müsse sich ändern.

„Wir brauchen gerade jetzt Studierende, die sich bei uns verantwortlich fühlen. “

Petra Kling
Petra Kling (Foto: privat)
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Petra Kling
SRH Hochschule Heidelberg

Es ist vielerorts erkennbar: In der Coronakrise rücken Lehrkräfte und Studierende enger zusammen – allem Social Distancing zum Trotz. Das HFD begleitet die neue Offenheit mit dem Pilotprojekt Student Digital Officer (SDO), das kürzlich mit einem Kick-off startete. Die Idee für dieses Projekt entstand schon 2019 – was in der Coronakrise ein Glücksfall ist, wie Petra Kling von der privaten SRH Hochschule Heidelberg erläutert: „Wir brauchen gerade jetzt dringend Studierende, die sich bei uns für genau solche Partizipationsprozesse verantwortlich fühlen, auch über Monate hinweg; die hierfür institutionalisiert auch hinter die Kulissen schauen dürfen und genau wissen, was an unserer Hochschule diskutiert wird, was zu uns passt oder was wir aus welchen Gründen schon verworfen haben.“ Als Projektmanagerin an der SRH Akademie für Hochschullehre ist Petra Kling überzeugt davon, dass ein solcher SDO die Innovationskraft der Studierenden in die Hochschule tragen würde und so eine ganz neue Qualität in der Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Studierenden entstehen könnte. 

Vier Pilothochschulen sind dabei

Vier Pilothochschulen wollen Prototypen für die Position eines SDO mit dem HFD entwickeln, die SRH Hochschule Heidelberg und die HRW sind mit dabei. Weil das Projekt ins Schwarze trifft, bekundeten weitere Hochschulen bereits ein starkes Interesse, mitzumachen. Aktuell lotet das HFD aus, wie der Kreis der Pilothochschulen erweitert werden kann. Man möchte die Ergebnisse zudem für interessierte Hochschulen bestmöglich aufbereiten, denn die entstehenden SDO-Konzepte werden „Maßanzüge“ für die jeweilige Hochschule sein, die sich nicht eins zu eins auf andere übertragen lassen werden.

Ankündigung des HFD-Hackathons
Hackathon-Banner
Grafik: HFD)
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Der Teufel steckt im Detail. Vieles wird erst sichtbar, wenn man es ausprobiert. Deshalb wird das HFD mit Partnern am 6. und 7. Mai über 36 Stunden lang einen Onlinehackathon veranstalten, nach dem Vorbild des erfolgreichen #WirVsVirus-Hackathons. Die HFD-Mitarbeiter erhoffen sich viel. „Wir wollen Probleme und Erfahrungen aus den ersten Wochen des Semesters aufgreifen und mit den Teams lösen beziehungsweise innovativ weiterentwickeln, damit möglichst viele im digitalen Sommersemester davon profitieren können“, sagt Till Rückwart, der den Hackathon beim HFD organisiert. Zwei Ebenen sind angedacht: interne Hochschul-Challenges, die teilweise nur der jeweiligen Hochschule offenstehen und von internen Teams bearbeitet werden, aber auch hochschulübergreifende Challenges, bei denen gerne auch Außenstehende mithelfen können, wie beispielsweise Akteure aus der EdTech-Szene oder Daten- und Softwareexperten. 

Mehr als 20 Hochschulen meldeten sich bereits an. Auch die SRH Hochschule Heidelberg sei definitiv mit dabei – gerade weil das Format so perfekt in die jetzige Zeit passe, so Petra Kling: „Wir schätzen sehr, dass sich die Konkurrenzgedanken vielerorts gerade in Luft auflösen, denn nichts ist für die Erarbeitung von Lösungsstrategien wertvoller als interdisziplinäre Teams.“ Dass sich jetzt zig Hochschulleitungen, Lehrkräfte, Studierende und andere Bildungsexperten über diesen sehr effizienten Weg eines Hackathons miteinander verbinden, um Lösungen für aktuelle gemeinsame coronabedingte Problemstellungen in 36 Stunden zu erarbeiten, sei überaus attraktiv.

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