Wissenschaftskommunikation

Zugleich vereint und getrennt: Wissenschaft und Gesellschaft

Illustration: Irene Sackmann
Illustration: Irene Sackmann
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„Liebe Wissenschaft, wir brauchen deine Hilfe, und zwar schnell!“ So in etwa wirkten die Signale, die Politik und Gesellschaft an die Wissenschaft sandten, als sich im Frühjahr 2020 herauskristallisierte, dass die Pandemie eine umfassende Reaktion erfordern und den Alltag womöglich tiefgreifend verändern würde.

Bis zum Frühjahr 2020 war es meist so, dass die Wissenschaft die Politik beraten hat und in der Gesellschaft eine Stimme mit einem gewissen Gewicht hatte – dass man aber bei den Entscheidungen am Ende das Gefühl hatte, dass jeder irgendwie ein bisschen mitgemischt hatte. Als Covid-19 aber in Europa zuerst über Italien hereinbrach und Bilder von abgewiesenen Patienten und abtransportierten Toten nach Deutschland spülte, schienen die Rollen angesichts der ernsten Situation ungewöhnlich klar verteilt: Die Wissenschaft liefert Antworten und die Politik handelt danach.

Mehr Vertrauen in die Wissenschaft

„Wie auf so vieles hat die Pandemie auch auf das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft grundlegende Auswirkungen gehabt. Im Laufe des Jahres sind die Erwartungen der Menschen und der Gesellschaft an die Wissenschaft deutlich gestiegen. Ich glaube, diese Erwartungen werden auch künftig so hoch bleiben“, sagt Andrea Frank, Leiterin des Aktionsfeldes Wissenschaft im Stifterverband.

Doch nicht nur die Erwartungen sind gestiegen, auch das Vertrauen in die Wissenschaft ist besonders im Frühjahr, zu Beginn der Pandemie, regelrecht in die Höhe geschnellt. Das zeigt eine Sonderbefragung des Wissenschaftsbarometers, einer normalerweise jährlich durchgeführten repräsentativen Bevölkerungsumfrage von „Wissenschaft im Dialog“ (WiD) zu den Themen Wissenschaft und Forschung. Bei der Frage „Wie sehr vertrauen Sie in Wissenschaft und Forschung?“ antworteten bei den jährlichen Umfragen 2017, 2018 und 2019 nur 9 bis 13 Prozent mit „vertraue voll und ganz“. Bei der Befragung im April 2020 hingegen waren es mit 35 Prozent ungefähr dreimal so viele.

Vertrauen in die Wissenschaft (Grafik: Wissenschaftsbarometer/Wissenschaft im Dialog)
Vertrauen in die Wissenschaft (Grafik: Wissenschaftsbarometer/Wissenschaft im Dialog)
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Diese Zahl ging zwar im November wieder leicht zurück auf 20 Prozent – trotzdem ist das Vertrauen in Wissenschaft und Forschung noch immer deutlich höher als vor der Pandemie. Wie beim Trend zum Homeoffice und bei der Digitalisierung wirkte das SARS-CoV-2-Virus auch für die zunehmende Bedeutung der Wissenschaft in der Gesellschaft wie ein Zeitraffer.

„Wissenschaft ist kein Gegensatz zur Gesellschaft und auch nicht von ihr abgekapselt, sondern ein Teil der Gesellschaft.“

Bettina Böhm
Generalsekretärin der Leibniz-Gemeinschaft

Mehr Medienpräsenz

Neben dem Vertrauen hat auch die Präsenz von Wissenschaft und Forschung in den Medien und in der Gesellschaft zugenommen. Klar, bei Corona ist das kein Wunder, betrifft es doch die eigene Lebenswelt. Während noch Anfang des Jahres fleißig auf der Fußball-Bundesliga-Tabelle hin und her gerechnet wurde, wie viele Punkte reichen würden, um einen Abstiegsplatz zu vermeiden, werden seit März täglich die Zahlen der SARS-CoV-2-Infizierten und der R-Wert analysiert und diskutiert; anstelle des Transfermarkts beäugt man die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen und die Zulassungsverfahren.

Aber auch andere wissenschaftliche Themen stehen mittlerweile im Mittelpunkt, die vor ein paar Jahren eher noch ein Schattendasein geführt hätten. Die Expedition des deutschen Eisbrechers „Polarstern“ in die Arktis zum Beispiel wurde seit dem Aufbruch des Forschungsschiffs im September 2019 von den Medien intensiv begleitet. Als die „Polarstern“ dann vor wenigen Wochen zurückkehrte und die Expedition zu Ende ging, stand das Forschungsschiff noch einmal in sehr vielen Medien im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Ein Stück weit lässt sich dies erklären mit dem großen Thema, das dahintersteht: dem Klimawandel. Wie die Pandemie löst auch dieses Thema bei den Menschen eine gewisse Betroffenheit aus. Dass ausgerechnet durch Erkenntnisse der Expedition bald Möglichkeiten gefunden werden, den Klimawandel spürbar zu verlangsamen, ist aber nicht zu erwarten. „Die Expedition der Polarstern war pure Grundlagenforschung. Die Menschen sind trotzdem enorm interessiert. Es ist gelungen, deutlich zu machen, warum diese Forschung für die Gesellschaft langfristig wichtig ist. Es ist aber auch gelungen, die Forschung der Expedition und die gesellschaftliche Debatte um den Klimawandel zusammenzubringen und sie darin einzuordnen. Davon brauchen wir mehr“, sagt Andrea Frank.

Jeder Mensch ist auch Wissenschaftler

Das sei allerdings nichts wirklich Erstaunliches, sagt Maria-Esther Vidal, Leiterin der Forschungsgruppe „Scientific Data Management“ am Leibniz-Informationszentrum für Technik und Naturwissenschaften (TIB) in Hannover. Im Gegenteil, diese Entwicklung sei eher überfällig: „Jeder Mensch hat das Grundbedürfnis, seine Umgebung zu verstehen. Deshalb schlummert im Grunde in jedem Menschen ein Wissenschaftler“, erklärt die Informatikprofessorin, die im November mit dem Wissenschaftspreis „Forschung in Verantwortung“ des Stifterverbandes ausgezeichnet wurde.

Vidal forscht daran, Daten aus unterschiedlichen Quellen und in unterschiedlichen Formaten aufzubereiten, zusammenzuführen und damit nutzbar zu machen, um aus ihrer Kombination neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dabei visualisiert sie auch die Daten durch Wissensgraphen – und macht sie zugänglicher für alle. Auf diese Weise fördert sie die Öffnung der Wissenschaft auch gegenüber der Gesellschaft. 

Diese zunehmende Öffnung der Wissenschaft, die wiederum mit einem Wertschätzen von wissenschaftlichen Erkenntnissen vonseiten der Politik und Gesellschaft einhergeht, schätzt Vidal als enorm wichtig ein. Wissenschaft könne der Gesellschaft objektive Wahrheiten bringen, die über das kurzfristige Rauschen politisch gesteuerter Interessen hinausgehen. Und der wissenschaftliche Fortschritt kann, wenn er auch auf die Gesellschaft und ihre Herausforderungen ausgerichtet ist, das Leben der Menschen und der Gesellschaft verbessern und schwerwiegende Probleme lösen. Aktuelles Beispiel: Die Entwicklung der Impfstoffe gegen Covid-19. 

Maria-Esther Vidal (Illustration: Irene Sackmann)
Maria-Esther Vidal (Illustration: Irene Sackmann)
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Forschung in Verantwortung

Der Stifterverband vergibt den Wissenschaftspreis „Forschung in Verantwortung“ alle zwei Jahre auf Vorschlag der Leibniz-Gemeinschaft. Der Preis ist mit 50.000 Euro dotiert und wird für hervorragende Forschungsarbeiten vergeben, deren Ergebnisse die Grundlagen für innovative Anwendungen in Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft bilden. Neben der wissenschaftlichen Qualität der Arbeit ist die gesellschaftliche Relevanz und der – zumindest teilweise – Nutzen für potentielle Anwender der Ergebnisse gleichwertiges Auswahlkriterium.

Der Preis wurde 2020 erstmals vergeben und ersetzt den von 2002 bis 2018 vergebenen Wissenschaftspreis „Gesellschaft braucht Wissenschaft“.

„Jeder Mensch hat das Grundbedürfnis, seine Umgebung zu verstehen. Deshalb schlummert im Grunde in jedem Menschen ein Wissenschaftler.“

Maria-Esther Vidal
Informatikprofessorin

Offene Wissenschaft hat auch mehr Verantwortung

Die neue Nähe von Wissenschaft und Gesellschaft bringt aber auch eine neue Verantwortung der Wissenschaft mit sich. „Zunächst einmal muss Wissenschaft transparent sein“, sagt Vidal. „Wissenschaftlicher Fortschritt lebt davon, dass neue Ergebnisse zur Diskussion gestellt werden und überprüft werden kann, ob sie reproduzierbar sind. Das ist das Urverständnis von Wissenschaft.“ Damit dieser Prozess reibungslos und verantwortungsvoll ablaufe, sei Transparenz wichtig: Deshalb ist Vidal auch eine Verfechterin des Prinzips von Open Science, wo jegliche Werkzeuge und Methoden offen und frei zugänglich dargelegt werden. So stehen auch alle von Maria-Esther Vidals Arbeitsgruppe entwickelten Software-Werkzeuge als Open-Source-Software für Forschung und Anwendung weltweit frei zur Verfügung.

Eine Verantwortung tragen Wissenschaftler auch in Bezug auf ihre Unabhängigkeit. Das gilt einerseits finanziell. Forschung kann zwar in manchen Fällen von wirtschaftlicher Seite gesponsert werden, sollte aber nicht beeinflusst werden. „Auch wenn Forschung von Unternehmen in der Hoffnung auf bestimmte Ergebnisse finanziert wird, darf dies nicht dazu führen, dass Forschungsergebnisse beeinflusst werden“, sagt die Generalsekretärin der Leibniz-Gemeinschaft Bettina Böhm. Leider sei der Grat oft sehr schmal. Hier kann unter anderem ein starker moralischer Kompass bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern helfen. 

Die Herausforderungen einer verantwortungsvollen Wissenschaftskommunikation

Aber unabhängig bleiben bedeutet auch, der Versuchung der Macht zu widerstehen. Wenn alle Welt auf die Wissenschaft hört, dann kann das für manch einen verführerisch sein: So nutzen einzelne Wissenschaftler das Ansehen der Wissenschaft, um zu provozieren, bekannt zu werden, gezielt eine Richtung vorzugeben – um Einfluss zu nehmen.

Das können solche Wissenschaftler sein, die Verschwörungstheorien neue Nahrung geben, aber auch solche, die bei der Politikberatung ihre eigenen Meinungen und Forschungsergebnisse nicht mit strengen wissenschaftlichen Kriterien hinterfragen. Oft steckt aber nicht einmal ein bestimmter Manipulationswille dahinter, sondern einfach der Druck der Öffentlichkeit: „Wir sehen durchaus Beispiele von Wissenschaftlern, die sich in Ad-hoc-Situationen zu Statements auf Gebieten hinreißen lassen, auf denen sie eigentlich kein Experte sind“, sagt Bettina Böhm.

Alle diese Fälle können zum Problem für die ganze Wissenschaft werden und sind es ein Stück weit auch schon geworden: Denn die große Stärke der Wissenschaft – ihre Objektivität und Allgemeingültigkeit, die sich vom Gewusel der Meinungen abhebt – wird unterminiert, was wiederum zu einem Verlust von Vertrauen und Akzeptanz führt.

Deshalb gehört nach Meinung von Andrea Frank zur Verantwortung der Wissenschaft auch die Fähigkeit, Komplexität zu erklären: „Die Menschen fordern von der Wissenschaft oft einfache Antworten. Wenn es diese Antworten aber nicht gibt, dann sollte die Wissenschaft die Komplexität deutlich machen und Erkenntnisse in den gesellschaftlichen Diskurs einordnen.“ Aber die Wissenschaft hat Grenzen – sie trifft nicht die politischen Entscheidungen, sie trägt bei zu den Entscheidungsgrundlagen. Diese unterschiedlichen Rollen von Politik und Wissenschaft sind im vergangenen Jahr immer wieder vermischt worden.

Warum gute Wissenschaftskommunikation so wichtig ist

Zwischen den Stühlen: Die Erwartungen von Medien und Politik an die Wissenschaft steigen.
Illustration: Irene Sackmann
Illustration: Irene Sackmann
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Vielleicht am wichtigsten für verantwortungsvolle Wissenschaft ist aktuell und in Zukunft eine unermüdliche Anstrengung für eine gute Kommunikation. Einerseits, um die eigenen Ergebnisse verständlich zu machen für eine größere Zahl Menschen, teilweise für die Gesellschaft. Wer sich in einer oft hochspeziellen Nische isoliert, wird weder gesellschaftliche Fragestellungen in seine Forschung mit einfließen lassen können noch wird er selbst wichtige Anstöße für die Gesellschaft geben können. „Und beides braucht es, damit die Wissenschaft ihre neue Rolle in der Gesellschaft verantwortungsvoll ausfüllen kann. Denn die Wissenschaft ist kein Gegensatz zur Gesellschaft und auch nicht von ihr abgekapselt, sondern ein Teil der Gesellschaft“, sagt Böhm.

Andererseits ist eine gute Kommunikation auch deshalb essenziell, um wissenschaftliche Angriffspunkte außerhalb der eigenen Forschungsnische anzubieten und wissenschaftliche Verbindungen zu finden. Denn Interdisziplinarität – die gemeinsame Forschung mehrerer Wissenschaftsdisziplinen – ist heute einer der großen Treiber des Fortschritts.

Vidal zahlt mit ihren Programmen und Datenbanken genau auf diesen Faktor ein: Sie organisiert Informationen neu, indem sie sie in ein neues Format bringt, sie miteinander verbindet. Vidal verknüpft Wissen. Und um Verbindungen geht es letztlich auch im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Deshalb verknüpft Vidal nicht nur die Daten und Wissenschaften untereinander – sie bringt auch die Wissenschaft und die Gesellschaft näher zusammen.

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