Wie erblicken wir eigentlich die Welt? Nun, Lichtreize fallen in zwei winzige Löcher unseres Kopfes und werden dann mittels Nervenbahnen in unser Gehirn weitergeleitet. Dort findet dann eine Art Ordnung dieser rohen Reize statt. Dabei entsteht nicht einfach nur ein starres Abbild wie bei einer Kamera, sondern dieser Vorgang ist sowieso ständig in Bewegung; das Gehirn nimmt zugleich eine kontextuale Einordnung dieser Reize in Form von Geschichten vor. Sehen – hören, fühlen, riechen natürlich auch – produziert immer eine Geschichte und/oder referenziert auf eine bereits vorhandene, mag sie auch noch so klein und belanglos daherkommen. Um ein Glas Orangensaft wahrzunehmen, müssen Sie wissen, was man mit dem Glas Orangensaft alles anfangen kann – wie man das Objekt kontextual einordnet. Sie haben dazu vielleicht schon sehr viele Geschichten und Verknüpfungen im Kopf. Sollten Sie Orangensaft jedoch noch nicht kennen, so haben Sie nun die Wahl, wie Sie sich diesen Orangensaft erschließen. Entweder Sie interagieren mit ihm oder beobachten Interaktionen der anderen oder lassen sich von Interaktionen der anderen erzählen. Im Mittelpunkt stehen jedoch stets die Geschichten des Orangensaftes und damit die Einordnung des Objektes in einen größeren Sinnzusammenhang.
Und so begegnen wir Tausenden dieser kleinen und ganz großen Geschichten in unserem Leben. Es gibt regelrechte Erzählstränge und Story-Universen. „Kultur“ ist so ein großer Erzählstrang, der sich über Tausende Jahre per Kommunikation durch die Weltgeschichte schlängelt und zugleich bei Menschen dafür sorgt, dass sie durch diese Geschichten eine Identität entwickeln. Ich erzähle, also bin ich. Wir saugen diese großen und kleinen Geschichten von Geburt an in uns auf. Daher ist es nur indirekt entscheidend, an welchem geografischen Ort wir geboren werden. Entscheidend ist eher, in welchen Erzählstrang wir hineingeboren werden. Glauben die Menschen um uns herum, die Welt sei von einem allmächtigen Wesen gelenkt, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir es auch glauben – es sei denn, wir erleben alternative Geschichten, die uns von einem ganz anderen Erzählstrang überzeugen. Zum Beispiel von einem Erzählstrang der Wissenschaft, welcher uns eine ganz andere Perspektive auf die Wirklichkeitskonstruktion der Welt ermöglicht.