Aber ist es in der derzeitigen Situation nicht zuviel verlangt, dass die Virologen schnellstmöglich einen Impfstoff entwickeln, aber gleichzeitig viel über die Epidemie erklären sollen?
Im Allgemeinen sind es die Direktorinnen und Direktoren der jeweiligen Institutionen, die an die Öffentlichkeit gehen. Die Untersuchungen selbst werden ja von Doktoranden, Postdocs und so weiter gemacht, denn da muss ja momentan rund um die Uhr gearbeitet werden. Andererseits muss man sich tatsächlich fragen, welche Anforderungen heutzutage an eine Person gestellt werden, die mal Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler werden will. Wir verlangen eine eierlegende Wollmilchsau, und das kann natürlich überhaupt nicht funktionieren. Wir müssen bei der Ausbildung unserer jungen Kolleginnen und Kollegen darauf achten, früh genug Talente zu identifizieren, die sich für Wissenschaftskommunikation eignen. Nicht jeder hat das Talent, sich in der Öffentlichkeit so auszudrücken, dass das Richtige gesagt wird und dass es so gesagt wird, dass es von der Öffentlichkeit auch tatsächlich verstanden werden kann. Nicht umsonst hat zum Beispiel die Philosophin Hannah Arendt in ihrem Buch Vita Activa schon 1958 sinngemäß gesagt: „Eine Schlüsselposition für die Stabilität einer technisierten, globalisierten Gesellschaft werden in Zukunft diejenigen haben, die die Ergebnisse der Wissenschaft in die Öffentlichkeit bringen und sie damit verständlich machen. Wenn die Öffentlichkeit die Wissenschaft nicht versteht, dann werden sich die Menschen von der Wissenschaft abwenden.“
Der Virologe Christian Drosten wurde ja in einem regelrechten Shitstorm kritisiert, weil er eine zuvor geäußerte Einschätzung zum Corona-Virus geändert hat …
… und hat auf die Kritik völlig richtig entgegnet, dass er schließlich kein Politiker, sondern ein Wissenschaftler sei, dessen Kenntnisstand sich verändern darf, ja, sogar verändern muss. Eine solche geänderte Lageeinschätzung zu kritisieren, ist fürchterlich – das dürfen wir niemals zulassen. Solche Leute wie Herr Drosten sind systemrelevant, auch wenn das ein blödes Wort ist. Diesmal sind nicht die Banken systemrelevant, sondern diejenigen, die in den Laboratorien die Untersuchungen machen und überlegen, was sich mit den Ergebnissen anfangen lässt.
Was können in der jetzigen Situation alle diejenigen Forscher zur Wissenschaftskommunikation beitragen, die keine Virologen oder Epidemiologen sind?
Nehmen wir mal die Geisteswissenschaften. In dieser Situation könnten sie sich fragen, was wir eigentlich sind: Sind wir nur noch eine von der Ökonomie getriebene Republik, die mit anderen Republiken zusammen Konsum durchführt? Ist es das oder sind wir mehr? Wo bleibt denn nun die europäische Identität? Und alle, die mit Naturwissenschaften zu tun haben, können sich recht leicht kundig machen über das Corona-Virus und in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis informieren und Dinge klarstellen. Ich bin mir sicher: Alle diejenigen, die sich für Intellektuelle halten, haben jetzt die dringende Verpflichtung, sich für die Sache einzusetzen. Und dann kann man eines Tages über die Corona-Krise vielleicht sagen: Damals haben wir endlich angefangen, vernünftige europäische Umwelt-, Klima-, Energie- und Gerechtigkeitspolitik zu machen.