außerschulisches Lernen

„Wir sind eine sehr kooperative Stiftung geworden“

Impression vom Deutschsommer 2020
Impression vom Deutschsommer 2020 (Foto: Stiftung Polytechnische Gesellschaft / Dominik Buschardt)
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Herr Professor Kaehlbrandt, der diesjährige Deutschsommer ist gerade zu Ende gegangen. Was war Ihr persönliches Aha-Erlebnis?
Ich fand es sehr anspornend, als einige Kinder nach den drei Wochen gesagt haben: „Wir wollen jetzt alle Wörter im Deutschen kennen!“ Voller Stolz und Neugier sagten sie es; daran zeigt sich, dass die Kinder den Deutschsommer als eine Art Stipendium ansehen, als ein Privileg. Und dann gibt es noch ein Aha-Erlebnis: Immer, wenn die Schule wieder beginnt, schreiben uns Lehrkräfte, dass ein Kind aus ihrer Klasse nicht mehr wiederzuerkennen sei. Es gehe jetzt aus sich heraus und sei viel selbstbewusster. Das hängt damit zusammen, dass die Kinder bei uns auf der Theaterbühne stehen und dafür Applaus bekommen.

Moment: Geht es im Deutschsommer nicht vor allem um die deutsche Sprache?
Es muss sich ja nicht ausschließen, dass man sich um soziale Kompetenzen ebenso kümmert wie um die Sprachfertigkeiten! Ganz im Gegenteil: Die beiden Aspekte sollen bei unserem Projekt Hand in Hand gehen. Der Ausgangspunkt ist, dass in vielen großstädtischen Klassen mittlerweile 15, 16 verschiedene Muttersprachen gesprochen werden. Bei uns in Frankfurt haben 70 Prozent der Neugeborenen einen Zuwanderungshintergrund, und das spiegelt sich natürlich auch in den Schulen wider. Das sind oft Kinder, die zwar Umgangsdeutsch sprechen, aber in der Bildungssprache unsicher sind. Trotz aller ihrer Begabungen werden sie deshalb ihr Leben lang benachteiligt sein. Die Schule kann das nicht allein schaffen. An der Stelle wollen wir ansetzen. Wir nutzen dazu die langen Ferienzeiten. 

Und deshalb spielen Sie mit den Kindern Theater?
Natürlich geht es auch um die Bildung von Verben, um Präpositionen, um Fälle – aber auch diese unbequemen Dinge kann man ja spielerisch angehen. Man kann zum Beispiel Präpositionen wunderbar mit Theater verbinden, indem die Kinder sich passend zu Präpositionen wie auf, dazwischen, neben, unter auf der Bühne platzieren. Oder indem sie Satzglieder darstellen und ihre Reihenfolge auf der Bühne verändern, wenn sie von einem Aussage- zu einem Fragesatz wechseln. Außerdem lesen die Kinder stets ein Buch im Deutschsommer, das auch für das Theaterspiel verwendet wird, derzeit Ronja Räubertochter von Astrid Lindgren. Sehr beliebt!

Stifterverband
Stifterverband
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Im 100. Jahr seines Bestehens sucht der Stifterverband Deutschlands beste 100 Ideen und Projekte für das Bildungs-, Wissenschafts- und Innovationssystem von morgen. Gemeinsam mit dem großen Partnernetzwerk des Stifterverbandes, bestehend aus Stiftungen, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, vernetzt „Wirkung hoch 100“ Querdenker und Pioniere und verhilft ihren Projekten zum Durchbruch. Für die finanzielle und ideelle Förderung stehen schon jetzt mehr als zwei Millionen Euro bereit.
Gesucht werden Projekte, die geeignet sind, besondere Wirkung zu erzielen, wie zum Beispiel der hier vorgestellte „Deutschsommer“. Auch ist es dem Stifterverband wichtig, dass Projekte die sich bewerben wollen, übertragbar und skalierbar sein sollen. Nicht zuletzt ist der Grad der Vernetzung von Projekten von Bedeutung. Alle Teilnahmekriterien zum Wettbewerb finden sich auf der Ausschreibungsseite. Bewerbungsschluss ist der 14. September 2020. 

„Wir haben oft Kinder, die zwar Umgangsdeutsch sprechen, aber in der Bildungssprache unsicher sind. Trotz aller ihrer Begabungen werden sie deshalb ihr Leben lang benachteiligt sein. Die Schule kann das nicht allein schaffen.“

Roland Kaehlbrandt
Roland Kaehlbrandt (Foto: Stiftung Polytechnische Gesellschaft/Sebastian Schramm)
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Roland Kaehlbrandt
Vorstandsvorsitzender der SPTG

Seit 2007 bieten Sie den Deutschsommer in Frankfurt an. Der Beginn kam also nur kurz nach der Gründung Ihrer Stiftung im Jahr 2005.
Ich sprach damals sowohl mit der hessischen Kulturministerin als auch mit dem Leiter des Amts für multikulturelle Angelegenheit in Frankfurt und schlug ihnen vor, dass wir als Stiftung die Initiative ergreifen und ein solches Projekt bei uns aufbauen. Wir fuhren dann gemeinsam nach Bremen, um uns die dortigen Erfahrungen mit einem ähnlichen Konzept anzuschauen.

Sie sprechen vom „Sommercamp“ der Jacobs Foundation. Wie viel konnten Sie damals vom dortigen Ansatz übernehmen?
Wir wussten aus der Evaluation des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung: Die explizite Sprachförderung in den Ferien lohnt sich. Der Grundgedanke, Deutsch gezielt zu unterrichten, also auch grammatische Strukturen, aber dies spielerisch zu tun, war für uns entscheidend. Wir haben dieses Fundament dann auf unsere Verhältnisse abgestimmt. Wir haben zum Beispiel eigene Lektüren ausgewählt und didaktisiert aufbereitet. Wir haben die Elemente der Teilhabe gestärkt, indem wir die Kinder einen Kinderrat wählen lassen. Wir haben eine sehr intensive Elternarbeit eingeführt – etwa mit dem Theater, von dem wir schon sprachen: Am Schluss des Deutschsommers bringen wir die Eltern in normalen Zeiten per Bus zu den Veranstaltungsorten, damit sie ihre Kinder auf der Bühne erleben können. Derzeit drehen die Kinder kleine Videofilme mit Theaterszenen, die sie ihren Eltern daheim vorführen. Wir haben ein Vorbereitungswochenende eingeführt, an dem wir alle beteiligten Lehrkräfte trainieren. Fachberater suchen alle Standorte auf und beraten die Lehrerteams. Letztlich ist auch der Name „Deutschsommer“ schnell bekannt und beliebt geworden. Und natürlich haben wir uns damals mit der Jacobs Foundation kurzgeschlossen, dass wir hier in Frankfurt den Staffelstab übernehmen.

Guter Betreuungsschlüssel

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Foto: Stiftung Polytechnische Gesellschaft/Dominik Buschardt
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Eine Besonderheit Ihres Frankfurter Programms ist, dass Sie dezidiert pädagogische Fachkräfte einsetzen. Wie finden Sie die?
Wir haben ein Assessment-Verfahren entwickelt, mit dem wir uns Fachleute für Deutsch als Zweitsprache aussuchen, um eine hohe Professionalität sicherzustellen. Häufig sind es Lehrerinnen und Lehrer, die das in ihren Ferien machen. Oft sind auch Referendare dabei, die schon eine intensive Schulpraxis haben, und immer wieder auch freie Lehrkräfte mit viel Erfahrung. Das gleiche Auswahlverfahren führen wir übrigens auch für die beteiligten Theaterpädagogen und für die Sozialpädagogen durch.

Wie viele Betreuer brauchen Sie denn?
Wir nehmen üblicherweise 180 Kinder auf, und für die haben wir 47 Pädagogen dabei. Dieser gute Betreuungsschlüssel ist uns wichtig, damit die Kinder während der drei Wochen wirklich in ein Sprachbad eintauchen.

Wie schaffen Sie es denn, die Kinder zur Teilnahme zu bewegen?
Wir setzen auf die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer in den Grundschulen. Sie sprechen die Eltern von Kindern an, bei denen sie der Meinung sind, dass ihnen der Deutschsommer weiterhilft. Das Entscheidende ist es dann, für Akzeptanz bei den Eltern zu sorgen – wir müssen sie ja schließlich davon überzeugen, drei Wochen der Ferien nicht wegzufahren. Wir bieten im Vorfeld Elternabende an, und von den angesprochenen Eltern kommen auch tatsächlich 97 Prozent. Wir gestalten diese Informationsabende sehr schön, da gibt es Theaterelemente, die Pädagogen stellen sich vor; es soll so ansprechend gestaltet sein wie der Deutschsommer selbst ja auch.

Inzwischen haben Sie es geschafft, das ursprünglich auf Frankfurt beschränkte Projekt immer weiter auszubauen …
… wobei das nicht mehr wir als Stiftung machen. Wir selbst konzentrieren uns tatsächlich finanziell und operativ auf Frankfurt.

„Ich finde es bewundernswert, mit welcher Sportlichkeit und welchem Engagement die Fachleute aus dem Ministerium die verschiedenen Standorte aufgebaut haben.“

Roland Kaehlbrandt
Roland Kaehlbrandt (Foto: Stiftung Polytechnische Gesellschaft/Sebastian Schramm)
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Roland Kaehlbrandt

Wie kommt es dann, dass es den Deutschsommer unter anderem auch in Darmstadt, Gießen, Rüsselsheim, Wetzlar und Wiesbaden gibt?
Als 2015 eine große Zahl von Zuwanderern kam, wurde deutlich: Wir müssen noch mehr tun als vorher. Wir haben einen engen Kontakt zum Kultusminister, mit dem wir uns ausgetauscht und früh beschlossen haben, dass wir mit dem Land Hessen eine Kooperation abschließen, durch die der Deutschsommer wandern kann. Ich finde es bewundernswert, mit welcher Sportlichkeit und welchem Engagement die Fachleute aus dem Ministerium die verschiedenen Standorte aufgebaut haben.

Und was ist konkret Ihre Rolle dabei?
Wir helfen zum Beispiel mit, wenn es um die Vorbereitung der Lehrkräfte und um das Curriculum geht. Inzwischen gibt es auch Handreichungen, in denen wir unser Know-how weitergeben. Wir finanzieren satzungsgemäß nur in Frankfurt, aber wir haben gelernt, unser Wissen zu vermitteln – und das machen wir sehr gern. Wenn sich Interessenten melden, natürlich auch aus anderen Bundesländern, laden wir sie zu uns nach Frankfurt ein und führen sie in die Struktur und die Didaktik des Projekts ein. Es ist zwar keine Geheimwissenschaft, die wir hier betreiben, aber man muss sich doch länger mit den Grundlagen vertraut machen.

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Foto: Stiftung Polytechnische Gesellschaft/Dominik Buschardt
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Der Deutschsommer

Unter dem Motto „Ferien, die schlau machen“ richtet sich die Stiftung Polytechnische Gesellschaft jährlich an Drittklässler aus Frankfurt. Sie sollen vor der vierten Jahrgangsstufe erreicht werden, die für den Übergang auf die weiterführenden Schulen entscheidend ist. 180 Kinder erweitern in den ersten drei Wochen der Sommerferien spielerisch ihre Deutschkenntnisse, entwickeln ein Theaterstück und entdecken im Freizeitprogramm ihre Umgebung. Der Deutschsommer findet in Jugendherbergen oder Schullandheimen statt. Er wird aber auch – zumal gegenwärtig – in geeigneten innerstädtischen Schulen angeboten. 

Gibt es denn über Ihre Kooperation mit dem Land Hessen hinaus viele solcher Anfragen?
Ja, die erreichen uns immer wieder. Das fing schon gleich nach dem Start des Deutschsommers an. Hanau und Offenbach sind zum Beispiel schon seit vielen Jahren dabei. Neulich meldete sich ein Rotary Club aus einer kleineren Stadt, der unseren Deutschsommer gern zusammen mit dem örtlichen Schuldezernat auf die Beine stellen wollte – und es gelang. Wir sind immer gern bereit, Unterstützung zu leisten. Man könnte sagen: Wir sind eine sehr kooperative Stiftung geworden.

Zur Person

Roland Kaehlbrandt ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main (SPTG) und Professor für Sprache und Gesellschaft an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft. Der promovierte Linguist war Mitglied der Geschäftsleitung bei der Bertelsmann Stiftung und Geschäftsführer der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung; dort etablierte er mehrere große Projekte zu Integration und Sprachkultur. 2006 wechselte er als Vorstand zur neu gegründeten SPTG.

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