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Schöne Mathematik

Ausschnitt aus dem Gemälde „Uncle Paul's Cabin“ von Eugen Jost
Ausschnitt aus dem Gemälde „Uncle Paul's Cabin“ von Eugen Jost
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Wenn er wieder einmal seine Ideen hat, zieht sich Eugen Jost in den Keller zurück. Der hat keinen Blick auf den Thunersee in der Schweiz, der in der Nähe seines Hauses liegt, aber für Naturschönheiten hat Eugen Jost in diesem Moment sowieso keine Augen. „Hier kann ich mich ganz auf meine Arbeit konzentrieren“, sagt er und seiner Sprache hört man den schweizerischen Zungenschlag an. Stundenlang kann er im Keller sitzen, vor seiner Leinwand, und ganz eintauchen in die Welt der Mathematik. Zahlen, Formeln, Gleichungen verarbeitet er, geometrische Figuren oder rätselhafte Formen. „Auf der Leinwand spiele ich intensiv“, sagt Eugen Jost, dessen Bilder in Ausstellungen überall in Europa zu sehen sind. Die Welt der Mathematik, so loben Kritiker, gießt Eugen Jost in Kunstwerke, die einen eigenen Kosmos bilden.

„Es gibt kein einziges Bild von Eugen Jost“, sagt Albrecht Beutelspacher, „das ich vollständig verstanden habe.“ Beutelspacher sitzt 500 Kilometer nördlich von Josts Schweizer Atelier im hessischen Gießen, der Mathematikprofessor ist Gründer des interaktiven Mathematikmuseums Mathematikum. Für ihn bedeutet dieser Satz das höchste Lob für Eugen Jost: So vielschichtig seien dessen Arbeiten, so kundig und detailverliebt, dass der Betrachter immer neue Verständnisebenen erklimme, je länger er sich mit ihnen auseinandersetze. Keine gemalten Zahlen oder Formen sind die Werke, sondern Gemälde voller Anspielungen und Symbole. „Es ist erstaunlich, wie viel Mathematik in seinen Werken enthalten ist“, konstatiert Albrecht Beutelspacher. Für ihn sind die Bilder von Eugen Jost eine der schlagenden Antworten auf jene Frage, die ihm immer wieder gestellt wird: Mathematik und Kreativität – wie passt das eigentlich zusammen?

Gemälde "Uncle Paul's Cabin" von Eugen Jost
Gemälde "Uncle Paul's Cabin" von Eugen Jost
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Eugen Jost verarbeitet in dem Gemälde „Uncle Paul's Cabin“ das Werk des Mathematikers Paul Erdös, der fasziniert war von der Schönheit der Zahlen und zu den bedeutenden Mathematikern des 20. Jahrhunderts zählt.

Albrecht Beutelspacher schüttelt bei dieser Frage seinen Kopf. Dass Mathematiker ein Buchhalter-Image haben und oft als Beamte gesehen werden, die Zahlen verwalten, das weiß er. „Wir Mathematiker aber sehen uns viel eher als Künstler, die ebenso Inspiration brauchen“, sagt er dann und holt zu einer Erklärung aus, die ihren Ursprung in mathematischen Aufgaben hat. Vor ein mathematisches Rätsel gestellt, sagt er, wende man zunächst wie ein Handwerker alle Werkzeuge an, die man in seinem Koffer habe. Wenn das aber nicht zu einem Durchbruch führe, dann komme es auf einen zündenden Gedanken an – das sei, so erklärt Beutelspacher, jener Moment, in dem Kreativität, Intuition und Fantasie ins Spiel kämen, genauso wie bei einem Künstler.

„Wir Mathematiker aber sehen uns viel eher als Künstler, die ebenso Inspiration brauchen.“

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Albrecht Beutelspacher (Foto: Christian Bohnenkamp)
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Albrecht Beutelspacher
Gründer des Mathematikums und Communicator-Preisträger

Mathematik ist einfach ästhetisch

„Die Mathematik hat ihre eigene Ästhetik“, sagt er dazu. „Es ist eine Ästhetik der Einfachheit, so wie der Bauhausstil.“ Die Konzentration auf das Wesentliche sei das Entscheidende. In seinem Gießener Mathematikum mündet diese Kreativität in dreidimensionale Objekte. Die Besucher können würfeln, schieben, balancieren, rätseln – ein harmloser Zeitvertreib auf den ersten Blick, aber auf den zweiten Blick das Tor zu den Rätseln der Mathematik. „Jedes Exponat ist ein kleines Forschungsprojekt“, sagt Albrecht Beutelspacher. „Wir wollen damit eine Situation schaffen, in der die Besucher kreativ werden können.“

Da ist sie wieder, die Kreativität: In Gießen bastelt inzwischen ein ganzes Team von Experten daran, den Zauber der Zahlen in Mitmachexponate zu bannen, eine eigene Werkstatt stellt Prototypen und Museumsstücke her, die inzwischen in Museen überall auf der Welt eingesetzt werden. Und dann schränkt Albrecht Beutelspacher doch ein: „Natürlich sind die wenigsten Mathematiker im landläufigen Sinne kreativ, dass sie also mit wallenden Gewändern herumlaufen würden oder so etwas in dieser Richtung. Aber sie brauchen eine ungeheure Konzentration, damit die kreativen Funken entstehen können, sonst kommen sie nicht weit.“

Bildergalerie: Der kreativ-mathematische Funke

In diesem Gemälde mit dem Titel „Hardys Taxi“ spielt Eugen Jost mit „schönen Zahlen“: Dazu gehören Dreieckszahlen (1,3,6,10,15,...), Quadratzahlen (1, 4, 9,16,25,...), Vollkommene Zahlen (6, 28, 496, 8128,...), Fibonacci-Zahlen (1,1,2,3,5,8,13, ...) oder auch Zahlwörter („forty“), bei dem die Buchstaben in der Reihenfolge des Alphabets auftauchen. Der Titel spielt auf den britischen Mathematiker Godfrey Harold Hardy (1877 -1947) an, der über Mathematik und Schönheit folgendes gesagt hat: 

The mathematician's pattern, like the painter's or poet's, must be beautiful; the ideas, like the colours of the words, must fit together in a harmonious way. Beauty is the first test: there is no permanent place in the world for ugly mathematics.

Eugen Jost hat dieses Werk „Centennium“ genannt. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet eine Zeitspanne von 100 Jahren. Eugen Jost hat dazu ein magisches Quadrat mit 10 mal 10 Feldern gestaltet . Es enthält nicht in allen 100 Feldern Zahlen, sondern auch Symbole und Muster, die mithilfe der sogenannten magischen Zahl bestimmt werden können. 

Das Pascal’sche Dreieck und einige seiner besonderen Eigenschaften sind in dem Gemälde „Drei Ecken - viele Eigenschaften“ von Eugen Jost zu entdecken. Es ist benannt nach dem französischen Mathematiker Blaise Pascal (1623-1662), der sich in seiner Schaffenszeit ausführlich mit dem nach ihm benannten arithmetischen Dreieck beschäftigt hat.  

Das Gemälde „Zahlen sind Wörter sind Zahlen“ zeigt, wie eng Zahlen und Worte miteinander verwoben sind. So gibt es Wörter, die Zahlen sind (eins, zwo, drei, vier), Worte, die Zahlenmengen ausdrücken, sich aber nicht auf Zahlen zurückführen lassen (Schar, Haufen, Rudel) oder auch Worte, in denen Zahlen verborgen sind (Duett, Dualität, Oktopus). Bei vielen Worten ist der Zusammenhang aber nicht mehr sofort zu erkennen, da sich die Sprache über die Jahrhunderte immer wieder gewandelt hat. Dazu zählt beispielsweise auch der Begriff „Mönch“, der ebenfalls im Gemälde zu finden ist. Er stammt vom griechischen „monachos“ ab und bedeutet: einzeln, allein lebend. Eugen Jost spielt mit diesen Begriffen und regt damit zu einer sprachlich-mathematisch-historischen Exkursion an. 

Palindrome stehen im Mittelpunkt dieses Gemäldes von Eugen Jost. So wie man die Namen Anna und Otto vorwärts und rückwärts lesen kann, so gibt es auch Zahlen mit spiegelsymmetrischer Anordnung (zum Beispiel 4884). Um ein Zahlen-Palindrom zu erhalten, addiert man zu einer beliebigen Zahl die gespiegelte Zahl (Ziffern in umgekehrter Reihenfolge). Zu dieser Summe wird die zugehörige gespiegelte Zahl addiert. Diese Vorgehensweise wird so lange wiederholt, bis man ein Palindrom erhält. Ein Beispiel daür findet sich im Bild:

96+69 =165

165+561=726

726+627=1353

1353+3531=4884

Weitere Elemente dieses Bildes sind sogenannte Zahlenfreunde, Zahlentripel sowie Primzahlen. 

In diesem Gemälde treffen die mathematischen Lehren von Fibonacci und Pythagoras aufeinander. Fibonacci ist bekannt für die wohl berühmteste Zahlenfolge der Mathematik: 1,1,2,3,5,8,13,21,34,55, ... Dabei liefert die Addition zweier aufeinanderfolgender Zahlen die nächste Zahl. Den Satz des Pythagoras für rechtwinklige Dreiecke kennt jeder noch aus seiner Schulzeit: a2+b2=c2

Das Bild zeigt nun Quadrate, deren Flächeninhalte der Fibonacci-Folge entsprechen. Sie entstehen, indem man den Satz des Pythagoras anwendet: Zwei Qudadrate mit Seitenlänge 1 (und damit Flächeninhalt 1) werden so aneinandergelegt, dass sie sich an einer Ecke berühren und die anliegenden Seiten jeweils senkrecht aufeinander stehen. Diese Seiten bilden die Katheten eines rechtwinkligen Dreieicks. Das zugehörige Hypothenusenquadrat besitzt die Fläche 2. Durch entsprechendes Anlegen eines der Kathetenquadrate an eine freie Ecke des Hypothenusenquadrats entsteht ein neues rechtwinkliges Dreieck, dessen Hypotenusenquadrat die Fläche 3 besitzt. Dieses Verfahren wird dann beliebig fortgesetzt. 

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Dieser kreative Funke hat bei Eugen Jost, dem Künstler aus der Schweiz, schon vor vielen Jahren gezündet. „Mein Leben lang habe ich mich schon für überraschende Phänomene interessiert“, sagt er. 70 Jahre alt ist er, vor einigen Jahren ging er als Lehrer in den Ruhestand. Dabei hatte er eigentlich nicht mal das Abitur, als er seine Berufslaufbahn begann: Als Jugendlicher machte er eine Lehre als Elektroniker, nebenbei bastelte und rätselte er wie ein Wilder. „Gestaltet habe ich immer gern“, sagt er achselzuckend zur Erklärung: Mit Keramik beschäftigte er sich eine Weile lang, dann holte er das Abitur nach und tauchte dann später im Berufsleben in die Drucktechnik ein, Siebdruck, typografische Experimente, konkrete Poesie. 

Durch seine Tätigkeit als Lehrer hat er es geschafft, dass die Hälfte seiner Schüler Mathe als Lieblingsfach nannte. Entlang von Denksportaufgaben tauchte er mit den Kindern und Jugendlichen in die komplexesten Aufgaben ein. Einmal zum Beispiel wies er jedem Schüler eine Zahl zwischen 1 und 19 zu und jeder sollte in einem mehrwöchigen Projekt alles zu seiner Zahl sammeln, was er finden konnte – von konkreten Eigenschaften der Zahlen bis hin zu symbolischen Bedeutungen.

Alles ist Zahl

Die Zahl Pi ist eine der faszinierendsten Zahlen der Mathematik, da ihre Darstellung unendlich ist. Das Gemälde von Eugen Jost zeigt die Zahl Pi bis auf die 202. Nachkommastelle.
Gemälde über die Zahl Pi von Eugen Jost
Gemälde über die Zahl Pi von Eugen Jost
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„Bei der 1 geht es zum Beispiel um das Einmalige, den Anfang. Bei der 2 kommen wir ins Sprachgeschichtliche: Abzweigung, Zwist, Zweifel. Wir haben Muster gesucht, Zahlenfamilien gebildet wie ungerade und gerade Zahlen, Quadratzahlen, Fibonacci-Zahlen, Primzahlen.“ Und schon waren sie mittendrin in der höheren Mathematik. Eugen Jost verschwand zu dieser Zeit immer öfter im Keller seines Hauses und stellte sich vor die Leinwand. Er malte magische Quadrate, stellte Zahlen als Muster dar und spielte mit der Zahl Pi („Wie faszinierend: eine Zahl, die nie aufhört!“).

Was als etwas spleeniges Hobby begann, entwickelte schnell eine ganz eigene Dynamik. Eugen Jost illustrierte einen Mathekalender, der so erfolgreich war, dass in den nächsten Jahren einige weitere Auflagen folgten. Dann veröffentlichte er in Anlehnung an das alte Motto der Pythagoräer ein Buch mit dem Titel „Alles ist Zahl“ – von ihm stammen die Bilder, die fachlichen Texte hat der Matheprofessor Peter Baptist übernommen. „Ich wollte einfach spielen“, sagt Eugen Jost lapidar, der selbst nie Mathematik studiert hatte, „das didaktische Ausschlachten meiner Bilder sollen andere übernehmen.“ In einem anderen Buch beschäftigte er sich mit der Schönheit der Geometrie. Derzeit arbeitet er an einer Serie von Daumenkinos: Um viele Sätze der alten Griechen geht es darin, um die Gaußsche Summenformel, um die Entstehung einer Ellipse oder um die Schnitte durch einen Würfel.

„Es gibt jede Menge Parallelen zwischen Mathematik und Kunst. Denken Sie nur an den goldenen Schnitt in Bildern, der ja ein mathematisches Konstrukt ist. Oder an Leonardo da Vincis künstlerische Beschäftigung mit Symmetrie und Maßen.“

Patrick Bauermann
Leiter der Bundesweiten Mathematik-Wettbewerbe bei Bildung & Begabung

Auch mathematische Aufgaben kann man schön lösen

Mit seiner Verbindung von der Mathematik zur Kunst ist Eugen Jost nicht allein. „Es gibt jede Menge Parallelen zwischen Mathematik und Kunst“, sagt Patrick Bauermann, der Leiter der Bundesweiten Mathematik-Wettbewerbe beim Talentförderzentrum Bildung & Begabung: „Denken Sie nur an den goldenen Schnitt in Bildern, der ja ein mathematisches Konstrukt ist. Oder an Leonardo da Vincis künstlerische Beschäftigung mit Symmetrie und Maßen.“ Bauermann ist selbst Mathematiker. Auch bei mathematischen Formeln gehe es um Ästhetik, sagt er: Man könne mathematische Aufgaben schön lösen, und schön bedeute in diesem Sinne für ihn: rein, klar, schnörkellos. Wenn Software eine komplizierte Gleichung löse, sehe man das häufig an den Rechenschritten, sagt Bauermann – auch wenn das Ergebnis richtig sei, fehle ihnen die Ästhetik.

Solche „schönen Lösungen“ seien ein Privileg der Mathematiker aus Fleisch und Blut. Dieses Kriterium der Schönheit spielt inzwischen auch im Bundeswettbewerb Mathematik (siehe Kasten) eine Rolle. Zum einen bei der Aufgabenstellung, die darauf ausgelegt ist, kreative Aha-Momente im Kopf der Teilnehmer auszulösen („Am besten ist eine Aufgabe, wenn Schüler sie schon auf dem Weg zur Bushaltestelle immer und immer wieder durchdenken“). Und zum anderen durch die seit einigen Jahren ausgewählte besonders schöne Lösung unter den Einsendungen zum Bundeswettbewerb. Dass Mathematiker eben keine bloßen Zahlenexperten seien, wolle man so zeigen, sagt Patrick Bauermann. Für ihn steht fest: „Jeder Mathematiker hat ein ausgeprägtes Schönheitsempfinden.“

 

Logo 50 Jahre Bundeswettbewerb Mathematik (Foto: Bildung & Begabung)
Logo 50 Jahre Bundeswettbewerb Mathematik (Foto: Bildung & Begabung)
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50 Jahre Bundeswettbewerb Mathematik

2020 feiert der Bundeswettbewerb Mathematik runden Geburtstag: 1970 rief der Stifterverband den Schülerwettbewerb zur Förderung des mathematischen Nachwuchses ins Leben. Ging es anfangs in erster Linie um die Unterstützung und Ausbildung von Lehrern und Fachkräften für die Wirtschaft, sind heute Entwicklung und Ausbau von Teamfähigkeit und die Heranführung von Mädchen an die Mathematik weitere zentrale Anliegen des Wettbewerbs. Seit den 1980er-Jahren betreut und organisiert allerdings nicht mehr der Stifterverband den Wettbewerb, sondern das Talentförderzentrum Bildung & Begabung, eine Tochter des Stifterverbandes.

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