Lehrermangel · Zukunftsmission Bildung

Der große Trichter

Illustration des Lehrkräftetrichters von Jens Bonnke
Illustration: Jens Bonnke
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An die Worte ihrer Dozenten erinnert sich die Lehrerin Imke Kahrmann heute noch: „Die haben uns schon im ersten Semester gesagt: ‚Ihr werdet euch noch wundern, die Schülerinnen und Schüler sind heute ganz anders!ʻ“ Heute ist Kahrmann seit fünf Jahren im Schuldienst, sie unterrichtet Musik und Deutsch an einer Gesamtschule im nordrhein-westfälischen Velbert, und vor allem: Von ihrem Beruf ist sie begeistert – „auch wenn dieser Satz damals wie eine Drohung in meinen Ohren geklungen hat, so richtig abschreckend!“

Wenn Imke Kahrmann auf ihren Ausbildungsjahrgang zurückschaut, zeigt sich daran im Kleinen das gewaltige Problem, vor dem die deutschen Schulen stehen: Ihr Musikstudium, sagt sie, habe sie mit 20 Mitstudierenden begonnen, die Lehrerin beziehungsweise Lehrer werden wollten – am Ende aber waren es nur noch fünf, die tatsächlich an einer Schule gelandet sind. Alle anderen haben das Studium abgebrochen oder sich schließlich für einen anderen Beruf entschieden. Genau das geschieht überall in Deutschland an den Universitäten und pädagogischen Hochschulen, wo die Lehrkräfte von morgen ausgebildet werden: In Scharen entscheiden sie sich gegen den Beruf, den sie eigentlich angestrebt haben.

„Man kann sich das vorstellen wie einen regelrechten Trichter“, sagt Bettina Jorzik, die beim Stifterverband die Programme für die Lehrkräftebildung leitet: „Es fangen viele mit dem Studium an, aber am Schluss kommen nur wenige im Schuldienst an.“ Mehr als 40 Prozent beträgt die Schwundquote im Durchschnitt, in einigen Bundesländern wie Berlin erreicht sie sogar 64 Prozent. Besonders verheerend ist das, weil eigentlich jeder einzelne Lehrer, jede einzelne Lehrerin gebraucht würde: In den kommenden zehn Jahren fehlen, je nach Schätzung, zwischen 68.000 und 81.000 Lehrkräfte. „Der Mangel hat sich über die vergangenen Jahre immer weiter verschärft“, hat Bettina Jorzik beobachtet. „Inzwischen betrifft er sämtliche Schulformen und nahezu alle Unterrichtsfächer.“

Illustration des Lehrkräftetrichters
Grafik: Stifterverband
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Bei dem aktuellen Bedarf ist der Schwund an potenziellen Lehrkräften vor allem während der Studienzeit bundesweit zu hoch. (Stifterverband-Grafik)

Woran aber liegt es, dass so viele angehende Lehrkräfte ihr Berufsziel noch während des Studiums aufgeben? Die Erziehungswissenschaftlerin Anna Hartl forscht an der Technischen Universität München und verantwortet die bislang umfangreichste Studie zu diesem Thema. In einer Umfrage unter mehr als 900 Lehramtsstudierenden aus vier Bundesländern ist sie immer wieder auf ähnliche Gründe gestoßen. „Auf den ersten drei Plätzen stehen die hohen Leistungsanforderungen im Studium, die mangelnde Motivation und die Studienbedingungen“, fasst sie ihre Befunde zusammen. Dieses Ergebnis führt direkt in eine Besonderheit des Lehramtsstudiums: Wer sich dafür einschreibt, studiert im Grunde drei verschiedene Fächer – und muss somit drei Studiengänge miteinander koordinieren. In Deutschland müssen Lehrkräfte immer zwei Fächer studieren, die sie später auch unterrichten werden, beispielsweise ein Paket aus Mathematik und Geschichte. Beides müssen sie also im Studium belegen, dazu noch die jeweilige Fachdidaktik und als weiteres Fach die Bildungswissenschaften.

Porträt Anna Hartl
Anna Hartl (Foto: TUM)
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„Ein Studium aus einem Guss könnte viele Probleme lösen. Wenn also die verschiedenen inhaltlichen Bereiche besser miteinander verzahnt werden.“

Anna Hartl
forscht an der TU München zum Studienabbruch im Lehramtsstudium

Hinzu kommt, dass das Lehramtsstudium in verschiedene Phasen unterteilt ist. „Ein häufiger Kritikpunkt ist, dass man am Anfang ein rein fachwissenschaftliches Studium absolviert, also beispielsweise nur Mathematikvorlesungen und -seminare besucht, aber dabei nur wenig Bezug zur späteren Berufspraxis hat“, sagt Anna Hartl. Manche Studierenden geben also entnervt auf, weil sich in den ersten Semestern vieles auf die Fachwissenschaften ausrichtet. Ein früherer Blick darauf, wie sie später den Unterricht gestalten können, wie sich die Inhalte an junge Menschen vermitteln lassen, könnte zu einem regelrechten Motivationsturbo werden.

„Wir haben bei den Befragungen gesehen, dass ein Studium aus einem Guss viele Probleme lösen könnte“, sagt Anna Hartl, „wenn also die verschiedenen inhaltlichen Bereiche besser miteinander verzahnt werden.“ Dafür seien die Hochschulen gefragt, die gerade in den ersten Semestern mit transparenten Informationen über die Studieninhalte, aber auch mit Brückenkursen und Mentoringprogrammen dabei helfen können, Durststrecken zu überwinden. Wichtig sei aber auch, dass die Politik die Rahmenbedingungen verbessere.

Die Stellschrauben der Kultusminister

Dorit Stenke kennt diese Forderungen. Sie ist Staatssekretärin für Bildung in Schleswig-Holstein und zugleich Co-Vorsitzende der Kommission für Lehrkräftebildung bei der Kultusministerkonferenz (KMK). „Die Stellschrauben, an denen wir drehen können, sind teilweise sehr klein“, sagt sie. „Aber über sie können wir trotzdem bessere Bedingungen für die Studierenden erreichen.“ Sie spielt damit auf die komplexen Zuständigkeiten an: Die Universitäten und auch die einzelnen Fakultäten sind eigenständig, dazu hat auch noch jedes Bundesland seine eigenen Vorgaben. In diesem Kompetenzgefüge muss sich bewegen, wer etwas verändern will.

Schleswig-Holstein schafft das erfolgreich: Es gehört zu den Bundesländern mit der niedrigsten Abbrecherquote von Lehramtsstudierenden. „Schon vor mehreren Jahren haben wir die Allianz für Lehrkräftebildung gegründet, der alle Hochschulen angehören, die Lehrkräfte ausbilden. Wir ziehen also an einem Strang. Und wir haben einen Handlungsplan zur Lehrkräftegewinnung erarbeitet, nach dem wir jetzt gemeinsam vorgehen.“ Im Mittelpunkt steht, die Studierenden während ihrer Zeit an der Universität besser zu begleiten; auch ein duales Masterstudium für Sonderpädagogik und für das Lehramt an Berufsschulen in den Bereichen und Ingenieurwissenschaften wurde eingeführt. Und: Die Zahl der Studienplätze für das Lehramt Grundschul- und Sonderpädagogik wurde über die vergangenen Jahre stark erhöht. „Dieses Maßnahmenpaket hat sich bewährt“, bilanziert sie. „Zuletzt konnten wir die Stellen an den Schulen sehr gut besetzen.“

Auch auf Ebene der KMK werden derzeit einige Stellschrauben bewegt. Im Frühling 2024 wurden drei Beschlüsse gefasst, die auf dem konservativen Feld der Lehrkräftebildung als revolutionär gelten: Erstens wurde der Weg für sogenannte Ein-Fach-Lehrkräfte freigemacht. Bislang mussten Studierende mindestens zwei Fächer belegen, wenn sie sich auf den Schuldienst vorbereiten. Zweitens wurden duale Studiengänge ermöglicht, bei denen die Verzahnung von Praxis und Theorie stärker ausgeprägt ist. Und drittens werden Masterstudiengänge für Quereinsteiger geschaffen, durch die Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen einfacher umsatteln können – wer also erst während des Studiums auf die Idee kommt, Lehrkraft zu werden, kann dadurch leicht die benötigte Qualifikation draufsatteln.

Portraitfoto von Dorit Stenke
Dorit Stenke (Foto: Frank Peter)
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„Durch künstliche Intelligenz und adaptive Lernsysteme wird sich die Schulrealität stark verändern.“

Dorit Stenke
ist Co-Vorsitzende der Kommission für Lehrkräftebildung bei der Kultusministerkonferenz (KMK).

Worüber diese KMK-Beschlüsse nicht hinwegtäuschen dürfen: Die Lehrkräftebildung bleibt weiterhin Ländersache. „Wir sehen deshalb in der Praxis unterschiedliche Wege, wie die Länder diese drei Punkte umsetzen“, räumt Dorit Stenke ein, die maßgeblich an dem gemeinsamen Vorgehen mitgearbeitet hat. Genau diese Vielfalt biete aber auch Vorteile – so könne man beispielsweise detailliert beobachten, welche konkreten Schritte sich besonders bewähren. Vor allem aber: Dass alle Länder gemeinsam die drei Reformschritte mittragen, sorgt dafür, dass die angehenden Lehrkräfte flexibel bleiben. „Die wichtige Botschaft an sie ist: Ihr seid mobil und nicht gebunden an das Bundesland, in dem ihr euer Studium absolviert habt“, sagt Dorit Stenke. Wichtig ist ihr auch, dass begleitend an einer Übersicht gearbeitet wird, wie die Reformschritte in den Ländern umgesetzt werden. Bis 2035 solle der gesamte Prozess zudem evaluiert werden.

Ihre Kommission für Lehrkräftebildung bei der KMK arbeitet derweil an den nächsten Zielen. Die Weiter- und Fortbildung steht auf der Agenda ganz oben – denn schon jetzt steht fest, dass der Beruf vor einem tiefgreifenden Wandel steht: „Durch künstliche Intelligenz und adaptive Lernsysteme wird sich die Schulrealität stark verändern“, sagt Stenke. Darauf müsse die Aus-, Fort und Weiterbildung der Lehrkräfte reagieren und möglicherweise werde der Beruf durch die geänderten Voraussetzungen auch für ganz neue Bewerberinnen und Bewerber interessant. Für sie steht fest: „Auf dem Feld ist gerade sehr viel in Bewegung geraten. Und es gilt, diese Bewegung in die richtige Bahn zu lenken.“

Der Stifterverband will zu dieser neuen Dynamik beitragen. „Unser Ziel ist es, die Lehrkräftelücke bis zum Jahr 2030 zu halbieren“, sagt Stifterverbands-Expertin Bettina Jorzik. Es gehe aber nicht bloß um die Zahlen, betont sie: „Um dieses quantitative Ziel zu erreichen, müssen wir die Lehrkräftebildung ganz neu denken.“ Der Stifterverband hat dazu einen Masterplan entwickelt, in dem er konkrete Vorschläge unterbreitet. Und in seiner Allianz für Lehrkräfte bringt er Personen aus Politik, Schule und Hochschule sowie Zivilgesellschaft zusammen, um mit vereinten Kräften und neuen Ideen die Lehrkräftebildung zu verbessern. Eins stehe dabei jetzt schon fest, sagt Bettina Jorzik mit Blick auf den „Lehrkräftetrichter“: „Der Weg ist es nicht, oben mehr reinzufüllen – also noch mehr Studienanfänger für das Lehramt zu gewinnen. Es geht darum, die vorhandenen Studierenden besser zu motivieren und gleichzeitig seitlich neue Interessenten zuzuführen.“

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Genau das ist das Spezialgebiet von Dirk Richter. Er ist Professor für Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung an der Universität Potsdam und einer der führenden Experten für unkonventionelle Wege in den Lehrerberuf. „Der Ruf von Quereinsteigern ist immer noch schlecht“, konstatiert Dirk Richter. „Das klassische Klischee lautet, dass sie ohne Qualifikation die guten Stellen abgreifen und die Schulbildung dadurch verschlechtern.“ Studien legten aber nahe, dass dieses Klischee nicht stimme, ergänzt Richter: Grundlegende Unterschiede beim Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler ließen sich nicht feststellen – „allerdings berichten die Schulen, dass der Unterricht bei Quereinsteigern anders verläuft als bei grundständig qualifizierten Lehrkräften.“

Neue Zugangswege in den Beruf

Wie heterogen das Feld ist, zeigen schon die Begrifflichkeiten: Oft wird zwischen Quereinsteigern und Seiteneinsteigern unterschieden – während Erstere kein Lehramtsstudium absolviert haben und dann über ein Referendariat an die Unterrichtspraxis herangeführt werden, kommen Letztere aus einem anderen Beruf direkt an die Schule und werden berufsbegleitend für die Lehre nachqualifiziert. Die frühere Fitnesstrainerin, die jetzt Sport unterrichtet, zählt ebenso dazu wie der Bäcker, der zum Sachkundelehrer wird. „Noch vor zehn, 20 Jahren hat dieses ganze Feld eine untergeordnete Rolle gespielt“, sagt Dirk Richter. Heute allerdings zähle je nach Bundesland schon die Hälfte der eingestellten Lehrkräfte zu den Quer- beziehungsweise Seiteneinsteigern. „Ohne sie würde das ganze Schulsystem nicht mehr funktionieren“, urteilt Richter.

Aber nicht nur wegen dieser gewaltigen Zahlen sieht er ein großes Potenzial in den nicht traditionellen Zugangswegen zum Lehrerberuf. „Ich bin davon überzeugt, dass wir Hochschulabsolventen bessere Angebote machen sollten, wenn sie vor der Entscheidung für einen Berufsweg stehen“, sagt Dirk Richter. Warum also sollte man nicht unter jenen für den Lehrerberuf werben, die ihr Studium gerade abschließen, aber bislang nicht an den Schuldienst gedacht haben? „Viele überlegen in dieser Phase, wie es für sie weitergehen soll – und ein passendes Angebot für einen weiterbildenden Master kann sicher spannende Kandidaten überzeugen.“ 

Portraitfoto von Dirk Richter
Dirk Richter (Foto: Die Hoffotografen)
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„Ohne Quer- und Seiteneinsteiger würde das ganze Schulsystem nicht mehr funktionieren.“

Dirk Richter
ist Professor für Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung an der Universität Potsdam.

Problematisch ist in der Praxis das, was intern oft als „Notbesohlung“ bezeichnet wird: Jemand gibt seinen Job auf, um an die Schule zu wechseln und vom ersten Tag an zu unterrichten. Das didaktische Handwerkszeug erhält er währenddessen, jede Woche sind ein paar Stunden für Fortbildungen vorgesehen. Dieser Weg sei häufig allein schon zeitlich stark belastend, sagt Dirk Richter, und manchmal merkten die Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger erst zu spät, dass der Lehrberuf doch nichts für sie ist. „Da könnte ein berufsbegleitendes Studium helfen, bei dem jemand sich erst einmal qualifizieren und behutsam in den Lehrerberuf reinschnuppern kann, bevor er seinen bisherigen Beruf aufgibt“, so Richter. Bei allen diesen Überlegungen sei eines wichtig, betont der Potsdamer Forscher: Eine wissenschaftsbasierte Ausbildung sollte die Grundlage für den Lehrerberuf sein und bleiben – und die Standards, was eine Lehrkraft können muss, sollten nicht gesenkt werden. Den Weg dorthin allerdings, den könne man gut flexibilisieren.

Imke Kahrmann indes, die Gesamtschullehrerin aus Nordrhein-Westfalen, ist nach den ersten Jahren immer noch überzeugt davon, ihren Traumberuf gefunden zu haben. „Ich finde es so wichtig, Kinder zu bestärken und ihnen Chancen aufzuzeigen“, sagt sie, „und genau das kann ich als Lehrerin machen!“ Wenn sie zurückblickt auf ihr Studium, fällt ihr als Erstes die gedrückte Stimmung ein. „Was das Lehramtsstudium unsexy macht, ist diese Atmosphäre der schlechten Laune.“ So als warteten alle mit eingezogenem Kopf darauf, welche Zumutungen die Realität des Unterrichts für sie bereithalten würden. Alles Quatsch, resümiert sie nach ihren praktischen Erfahrungen: „Niemand hat uns gesagt, was wir da eigentlich für einen tollen Beruf haben!“

Lehrkräftetrichter Länderausgabe Studie
Lehrkräftetrichter Länderausgabe Studie
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Lehrkräftetrichter im Ländervergleich

Studie des Stifterverbandes

Eine exzellente Lehramtsausbildung ist langfristig ein Schlüsselfaktor im Kampf gegen den massiven Lehrkräftemangel. Bei dem aktuellen Bedarf ist der Schwund an potenziellen Lehrkräften vor allem während der Studienzeit bundesweit zu hoch. Mehr als 40 Prozent der Studierenden orientieren sich vor allem in den ersten Semestern noch einmal neu. Dabei gibt es gravierende regionale Unterschiede. Für schnelle Lösungen haben sich Seiten- und Quereinstiege als Normalfall etabliert.

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