Lehrermangel

„Der Beruf ist viel mehr, als einfach nur den Lehrplan einzuhalten“

Porträt Marie F.
Marie F. (Foto: Angelika Zinzow)
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Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Unterrichtsstunde als Lehrerin?
Klar: Da war ich selbst noch ein Grundschulkind. Ich wusste seit der ersten Klasse, dass ich einmal Lehrerin werden will, und irgendwann habe ich einfach gefragt, ob ich nicht mal eine Stunde halten könnte. Es ging um Planeten.

Es muss Ihnen ja schon damals viel Spaß gemacht haben, dass Sie danach bei dem Berufswunsch geblieben sind.
Stimmt – obwohl damals die Erfahrung nicht ganz repräsentativ war: Als ich vor der Klasse stand, waren alle natürlich neugierig, wie ich das als Mitschülerin schaffe. So viel Aufmerksamkeit habe ich heute nicht immer, wenn ich Jugendliche unterrichte, die persönlich gerade oft ganz andere Dinge im Kopf haben als das, was ich ihnen gerne vermitteln würde. (lacht) Während meines Studiums habe ich nach ersten Praktika zum ersten Mal nach dem Bachelorabschluss eine Klasse eigenverantwortlich unterrichtet.

Als Studentin ganz allein vor einer Klasse?
Ich kam gut klar. Krass fand ich es aber, dass ich schon gleich auch Noten geben musste. Ich hatte eigenverantwortlich Klassenarbeiten gestellt, Tests mit den Schülern geschrieben und mündliche Noten vergeben. Die Schule hat mir einen Tutor zur Seite gestellt, den ich fragen konnte, wenn ich etwas klären wollte – das fand ich sehr hilfreich. Inzwischen arbeite ich seit drei Jahren neben meinem Studium an einer Schule in Hessen. In Rheinland-Pfalz, wo ich ja studiere, gibt es ein Programm (PES), bei dem Lehramtsstudierende eingestellt werden können, um Unterrichtsausfälle zu verhindern. Solche Stellen haben viele meiner Kommilitonen.

Marie F.
Marie F. (Foto: Angelika Zinzow)
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„Wenn ich den Unterricht so planen will, dass er meinen eigenen Ansprüchen genügt, kann ich kaum eine Vollzeitstelle annehmen.“

Marie F.
Lehramtsstudentin

Im System „gefangen“

Wenn Sie jetzt die Schule mit allen Facetten kennen: Deckt sich das Berufsbild mit dem, was Sie erwartet haben, als Sie sich für das Lehramtsstudium entschieden haben?
Ganz am Anfang hatte ich noch eher die naive Vorstellung: Ich gehe dort hin, die Schüler mögen mich und wir machen gemeinsam tolle Projekte und ich kann junge Menschen inspirieren und im Leben weiterbringen. Inzwischen weiß ich, dass viele Dinge deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen, als man vielleicht erwarten würde – die Konferenzen zum Beispiel, Korrekturen und Notengebung, Elternabende, aber auch die Unterrichtsvorbereitung. Die Realität hat mir gezeigt: Wenn ich den Unterricht so planen will, dass er meinen eigenen Ansprüchen genügt, kann ich kaum eine Vollzeitstelle annehmen. So geht es übrigens nicht nur mir: In meinem Freundeskreis an der Uni sind viele, die auch nicht einfach nur das Schulbuch aufschlagen und eine Aufgabe rauspicken wollen.

Sind denn in Ihrem Umfeld alle über das ganze Studium hinweg dabeigeblieben?
Im Gegenteil: Es sind viele darunter, die sich entschieden haben, nicht ins Referendariat zu gehen, also nicht Lehrer zu werden.

Was steckt dahinter?
Viele finden den Beruf eigentlich gut und wichtig, aber wollen überwiegend aus zwei Gründen nicht weitermachen: Manche möchten nicht in einem System „gefangen“ sein, das ihnen mit der Notenvergabe, den Fächerstrukturen und den Lehrplanvorgaben nicht gefällt. Und der zweite Grund ist die Schulpraxis, in der man mit vielen gesellschaftlichen Herausforderungen klarkommen muss, dazu mit großen Klassen kämpft und dann auch noch mit Eltern zu tun hat, die oft meinen, alles besser zu wissen als die Lehrkraft.

Haben Sie selbst zwischendurch auch einmal daran gedacht, das Handtuch zu werfen?
 

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Der große Trichter

Die Schwundquote in der Lehramtsausbildung ist gewaltig. Oft geht der Nachwuchs schon während des Studiums verloren. 

Im ersten und zweiten Semester bin ich ein bisschen ins Schwanken gekommen, und das lag an den Studieninhalten. In Deutsch zum Beispiel – einem meiner beiden Kernfächer – ging es am Anfang wenig um Didaktik. Es war stark fachwissenschaftlich geprägt und drehte sich dann auch noch um Themen, die mich persönlich weniger interessieren. Das fand ich manchmal schon frustrierend, weil ich den Eindruck hatte, dass mein Studium nichts mit dem zu tun hat, was in der Schule gebraucht wird. In Gesprächen mit meinen Freunden habe ich damals festgestellt, dass es ihnen ähnlich ging: Auch sie hätten sich schon in dieser frühen Phase mehr Praxis gewünscht. Aber natürlich verstehe ich auch diejenigen, die sagen, dass angehende Lehrkräfte auch fachwissenschaftlich auf einem festen Fundament stehen sollen. 

Wie lief es in Ihrem anderen Fach, der Sozialkunde?
In Sozialkunde konnte ich einiges für meinen späteren Beruf, aber auch für mich persönlich mitnehmen: Auch hier ging es mit viel Theorie los, aber wir haben dann früh auch Exkursionen und Praxisseminare gemacht und Fachinhalte mit Unterrichtsplanung verknüpft. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Besuch im Landtag, bei dem wir mit Abgeordneten gesprochen und Programme kennengelernt haben, die es dort für Schulklassen gibt. Solche Seminare empfinde ich als sehr motivierend und inspirierend.

Zum Lehramtsstudium gehören auch die Bildungswissenschaften. Welche Erfahrung haben Sie damit gemacht?
Wir haben viel über die soziologischen, psychologischen und didaktischen Hintergründe erfahren. Aber mir hat zum Beispiel ein Blick auf die gesellschaftlichen Probleme gefehlt, mit denen wir ja an den Schulen konfrontiert sein werden, und auch von modernen Schulkonzepten habe ich wenig gehört. Der Beruf ist ja viel mehr, als einfach nur den Lehrplan einzuhalten. Wir Lehrkräfte können zum Beispiel einen Beitrag leisten zur Bildung für Demokratie, für nachhaltige Entwicklung – dass diese Aspekte schon im Studium stärker betont werden, das hätte ich mir gewünscht.

Zur Person

Marie F. (der Name ist der Redaktion bekannt) ist angehende Lehrerin für Deutsch und Sozialkunde, als Erweiterungsfächer hat sie Geografie und Musik gewählt. Ihr Lehramtsstudium an der Universität Mainz hat sie gerade abgeschlossen, jetzt beginnt sie mit ihrem anderthalbjährigen Referendariat. Sie engagiert sich für eine bessere Lehrerbildung, unter anderem bei Students for Future und am Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung (ZfL). 

Marie F.
Marie F. (Foto: Angelika Zinzow)
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Lehrkräftetrichter im Vergleich

Neue Studie des Stifterverbandes

Eine exzellente Lehramtsausbildung ist langfristig ein Schlüsselfaktor im Kampf gegen den massiven Lehrkräftemangel. Bei dem aktuellen Bedarf ist der Schwund an potenziellen Lehrkräften vor allem während der Studienzeit bundesweit zu hoch. Mehr als 40 Prozent der Studierenden orientieren sich vor allem in den ersten Semestern noch einmal neu. Dabei gibt es gravierende regionale Unterschiede. Für schnelle Lösungen haben sich Seiten- und Quereinstiege als Normalfall etabliert.

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