Science Entrepreneurship

Start-ups und der Mittelstand

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Collage: Michael Krause/ mindprojection
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Das Silicon Valley gilt hierzulande als das gelobte Land. Scharen von deutschen Managern pilgern ins sagenumwobene Tal der Innovationen, der Inkubatoren und Acceleratoren. Sie wollen lernen, wie das geht mit der Digitalisierung. Stattdessen könnten sie auch das neue Buch des renommierten US-Wirtschaftsautoren Steven Hill lesen. Er hat über 20 Jahre lang dort gelebt und so manche Tech-Bubble kommen und gehen sehen. In „Die Start-up Illusion“ (sowie im Video-Interview mit dem Stifterverband) wirft er einen überaus ernüchternden Blick auf den rücksichtslosen digitalen Plattformkapitalismus von Uber, Airbnb, Upwork und Dutzenden anderen.

Seine zentrale Kritik: „Die US-amerikanischen Technologie-Unternehmen haben den Weg Amerikas zu einer Freelance-Gesellschaft beschleunigt.“ Immer mehr Menschen finden sich als Solo-Selbstständige in schlecht bezahlten Kurzzeitjobs wieder, von sozialer Absicherung ganz zu schweigen. Prekär lebende Clickworker hangeln sich von einem Mikro-Gig zum anderen. Die sogenannte Sharing Economy erweist sich nicht gegenüber allen als freigiebig.

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Steven Hill (Foto: Stifterverband)
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"In Silicon Valley 7 out of 10 of the start-up companies fail. It's essentiallly a big casino."

Steven Hill im Video-Interview I

Steven Hill

Steven Hills Analyse ist keine billige Abrechnung mit den neuen Giganten der Digitalwirtschaft. Ganz nüchtern betrachtet er die wahre wirtschaftliche Stärke der Börsengiganten. Denn Apple, Google oder Facebook beschäftigen kaum Menschen. Facebook kommt gerade einmal auf 12.000 Vollzeitarbeitskräfte. Mehr sind nicht notwendig, um die zwei Milliarden Facebook-Nutzer zu verwalten. Twitter oder Airbnb kommen gerade mal auf je 5.000 Mitarbeiter. Kein Vergleich also zu den Unternehmen der klassischen Industrien wie Daimler, Bosch oder Siemens, die Hunderttausende beschäftigen.

Nanojobs für zwei Dollar die Stunde

Aber auch die hochangesehene Start-up-Kultur der USA zeichnet sich nicht gerade durch ökonomische Erfolge aus, wie Hill genüsslich vorrechnet: Sieben von zehn Start-up-Unternehmen scheitern, neun von zehn machen niemals irgendwelche Gewinne. Eine aufgeheizte Investoren-Szene pumpe sinnlos massenhaft Geld in „schreckliche Ideen“. Allein in der Hoffnung, es möge ein neues Facebook dabei sein.

Ganz besonders richtet sich der Furor Hills gegen „Arbeitsmakler“ wie Upwork, Fiverr, TaskRabbit und einige andere: „Hier treten Auftragnehmer ohne jede soziale Absicherung gegeneinander an und feilschen um Aufträge, wobei zumeist derjenige den Zuschlag erhält, der das niedrigste Angebot macht.“ 

Ist das nicht zu schwarz gemalt? Man könnte ja auch argumentieren, dass diese Unternehmen durchaus eine unkomplizierte Möglichkeit zu zusätzlichen Einkommensquellen bieten. Mag sein, dass das auf einige Hochqualifizierte zutreffe, so Hill. Aber wer sein ganzes Leben als Uber-Fahrer oder als Airbnb-Vermieter bestreiten müsse, komme in der „Krümel-Economy“ nicht besonders weit. Die Regel sind weniger die hochbezahlten Google-Angestellten, die die Mieten in San Francisco zum explodieren bringen, sondern die Nanojobs der Clickworker, die für knapp zwei Dollar die Stunde Fotos taggen: Katze auf Sofa, Hund auf Sofa, Katze mit Keks, Hund mit Pizza …

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Cover: Droemer Knaur
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Steven Hill

Steven Hill ist ein US-amerikanischer Kolumnist, Autor und Politik-Experte, der u. a. erfolgreiche Kampagnen zur Reform des politischen Systems in den USA geführt hat. Seine Artikel und Kommentare erscheinen in den Leitmedien der westlichen Welt, u. a. in der New York Times, Washington Post, Wall Street Journal, Le Monde. Steven Hill ist ein ehemaliger Senior Fellow der New America Foundation und war 2016 Holtzbrinck Fellow der American Academy in Berlin.

Website von Steven Hill

„„Die Nanoisierung der Arbeit in immer kleinere Gigs ist eine schräge und verrückte Lehre aus dem Silicon Valley. Sie ist der folgerichtige Höhepunkt einer technologiegetriebenen Doktrin, der es vor allem darum geht, menschliche Wesen hypereffizient einzusetzen, als wären sie Maschinen.““

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Steven Hill (Foto: Stifterverband)
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Steven Hill

Und das wollen wir nun in Deutschland kopieren? Steven Hill kann das nicht verstehen. Deutschland könne vieles besser machen. Nämlich dadurch, dass es einmal nicht dem amerikanischen Vorbild nacheifere. Der deutsche Weg solle zwar durchaus auf Start-up-Unternehmen und Innovation aufbauen, aber auch auf den typischen deutschen Stärken. Nirgendwo, so Hill, kommen diese Qualitäten erfolgreicher zur Geltung als im deutschen Mittelstand: dieser umfasst rund 3,6 Millionen Unternehmen, etwa 60 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland, er generiert 56 Prozent der Wirtschaftsleistung und hält die Exportmaschine des Landes am Laufen. „Der Mittelstand ist ein Wirtschaftsmotor, der für die Art von Innovation steht, die beeindruckender ist als sämtliche Entwicklungen all der Facebooks, Googles, Amazons, Ubers und Apples zusammen.“

Aber: Der deutsche Mittelstand hat ein Problem. Er tut sich schwer damit, seine erfolgreichen Geschäftsmodelle in die digitale Zukunft zu transformieren. Nicht selten sind die deutschen Hidden Champions absolute Spitzenklasse - perfekt bis ins letzte Detail, weltweit erprobt und für gut befunden. Erst wenige Mittelständler, wie z.B. Trumpf, haben es jedoch geschafft, die erprobte Industriekultur mit der neuen Internetkultur zu verzahnen. Hill spricht hier von „Kreuzhybridisierung“. Erfolgreich umgesetzt, könne sie der deutschen Wirtschaft enorme Vorteile bringen. Deutschland könne der Welt damit zeigen, dass nicht alle Wege zwangsläufig in den irren US-Plattformkapitalismus münden müssen.

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Steven Hill (Foto: Stifterverband)
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"In some ways Germany ist starting to adopt the worst parts of the U.S."

Video-Interview II: The Downsides of the Digital Job Market

Steven Hill

Aus dem St. Oberholz nach St. Augustin

Aber wie soll das vonstatten gehen? Nun, Hill zählt einfach Eins und Eins zusammen. Während in den großen Metropolen Berlin, Hamburg oder München die Coffeeshop-Start-up-Hipster herumsitzen und an neuen Algorithmus-getriebenen Dienstleistungen basteln, die letztlich - siehe USA - die Wirtschaftskraft des Landes schwächen werden, suchen die meist in der Provinz angesiedelten Mittelständler dringend talentierte digitale Fachkräfte. Start-ups brauchen Geld, der Mittelstand hat es. Der Mittelstand braucht digitales Know-how, junge Digitalunternehmen haben es. Die erfolgreichen produzierenden Großunternehmen haben es längst vorgemacht: Produktentwicklung braucht die Integration von Kommunikations- und Informationstechnik, um sich ins digitale Zeitalter zu katapultieren.

Natürlich fremdeln die beiden Welten noch miteinander. Ein ordentlicher deutscher Mittelständler plant sorgfältig, setzt auf absolute Präzision, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit. Diese Tugenden vertragen sich nicht ohne weiteres mit der schrillen Start-up-Kultur, wo Apps und Anwendungen schon mal halbfertig auf den Markt geworfen („Erster!“) und Nutzer ungefragt zu Beta-Testern gemacht werden. Und welcher Coffeeshop-Hipster würde schon gern das warme Plätzchen im Berliner St. Oberholz mit einem Arbeitsplatz bei einem Mittelständler in St. Augustin tauschen? Aber: „Mit dem richtigen Hegen und Pflegen könnten diese beiden Welten ganz großartig zusammenpassen“, findet Hill.

Deutschland braucht also einen „zielgerichteten Start-up-Plan“, der sich ganz auf die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Bereichen konzentriert. Entscheider aus Politik und Wirtschaft müssten dies gemeinsam angehen. Das erfordere jedoch eine Abkehr vom Anspruch, ständig die großartigsten Konsumprodukte und Dienstleistungen wie Apple oder Google herzustellen. Die deutsche Stärke liegt seit jeher in der Industrie, nicht in der Konsumorientierung.

Und so rät Hill jungen Digitalunternehmern: „Geht raus aus Berlin. Lasst München und Hamburg hinter euch. Geht nach Meschede, Dortmund, Stuttgart, Frankfurt am Main und überall dazwischen.“

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