Ernst Timur Diehn: Noch hält man in den demokratischen Ländern eine optimistische Sicht auf das Internet aufrecht. Man hofft auf Gewinne für die Wirtschaft durch mehr Digitalisierung, auf neue Möglichkeiten für gesellschaftliche Transparenz und auf mehr Netzdemokratie.
Sandro Gaycken: Durch die wenig reglementierte und gleichzeitig kreative erste Wachstumsphase im Internet kam es natürlich zu einer gewissen gesellschaftlichen Befreiung durch mehr Information und Informationsvielfalt. Diese Phase ist vorbei. Es geht jetzt vor allem um Macht, geostrategische Interessen, um Sicherheit und um Kontrolle. Das Internet wird durch reiche und mächtige Global Player neu geformt und umgebaut. Alle Länder, die es sich leisten können, investieren verstärkt in neue Überwachungstechniken. Dabei sind wir technisch heute schon so weit, dass eine vollständige Kontrolle der Kommunikation und bald auch der Bewegungsmuster einer ganzen Bevölkerung möglich sein wird. Wann immer sich eine neue Opposition über das Internet formiert, wird das der Staat in der Regel früher wissen als die Oppositionellen selbst. Soziale Unruhen oder eine politische Opposition können durch elektronische Überwachung im Keim erstickt werden. Neue Tracking-Software und der Einsatz von Big Data ermöglichen schon bald eine flächendeckende Überwachung der Bevölkerung. Das heißt: Ihr Verhalten wird automatisch erfasst, ausgewertet und dabei sogar antizipiert werden. Und es gibt keine technische Möglichkeit, das zu verhindern. Es wird ein großes Erwachen geben, wenn die Menschen weltweit verstehen, dass das Internet zu einer riesigen Überwachungs- und Manipulationsmaschine umgebaut werden kann. In China erlebt über eine Milliarde Menschen das Internet bereits komplett aus dieser Perspektive.
Gleichzeitig boomt weltweit die Überwachungs- und Ausspähsoftware.
Vor allem Firmen aus den USA, aus Russland, China und auch Deutschland entwickeln Überwachungs- und Ausspähsoftware und liefern diese nach Afrika, Lateinamerika, nach Saudi-Arabien und in andere arabische Länder. Gegen die Bemühungen, diese Aktivitäten wenigstens zu regulieren, gibt es bis heute Widerstand – übrigens auch in Deutschland. Gleichzeitig führen westliche Geheimdienste wie die NSA „Information Operations“, also digitale Propaganda und Sabotage, gezielt über das Internet durch. Die Russen sind in der Ukraine und in Osteuropa in diesem Feld aktiv, unterwandern zum Beispiel systematisch die sozialen Medien, greifen Wahlcomputer an, um Wahlen unglaubwürdig zu machen, und so weiter.