Innovationssystem

Innovationen sind datenhungrig

Blick in ein Datencenter
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Das Beispiel mit dem Pizzalieferdienst bringt Jerome Geyer-Klingeberg gern, wenn es um Daten geht. „Stellen Sie sich vor, dass eine Bestellung eingeht, dann wird die Pizza gebacken, ausgeliefert, bezahlt. Das sind vier Aktivitäten“, sagt er. „Aber wirklich interessant ist alles, was nebenher passiert: Vielleicht ist die Pizza angebrannt oder der Kurierfahrer hat die Adresse nicht gefunden.“ Solche Fehler zu finden in einem Datenwust von Tausenden Pizzabestellungen – das ist die Kunst für Datenspezialisten, wie sie bei Celonis arbeiten.

Im Alltag beschäftigen sich Geyer-Klingeberg und seine Kolleginnen und Kollegen vom Münchner Unternehmen Celonis nicht mit Pizzabestellungen, sondern mit hochkomplexen Daten aus der Unternehmenssteuerung. „Die Abteilungen wie Einkauf, Produktion und Vertrieb produzieren unheimlich viele Daten, und wir untersuchen mit ihrer Hilfe, wie sich Abläufe verbessern lassen und wo regelmäßig Fehler passieren“, sagt Jerome Geyer-Klingeberg. Dieses sogenannte Process-Mining hat das einstige Start-up, das heute mehr als 3.000 Mitarbeiter beschäftigt, zum Marktführer gemacht – und das Unternehmen, das einst als Ausgründung aus einer Universität entstanden ist, arbeitet eng mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen auf der ganzen Welt zusammen. Sie stellen ihre Software für Akademikerinnen und Akademiker kostenlos zur Verfügung und teilen Daten, um die Analysemethoden weiter zu verfeinern und Innovationen auf die Spur zu kommen. Auch die Firmen, die Kunden von Celonis sind, schätzen diesen engen Austausch mit der Wissenschaft, aus dem etliche gemeinsame Projekte entstanden sind.

Das Beispiel zeigt: Wissenschaft und Wirtschaft sind aufeinander angewiesen – und auf einen partnerschaftlichen Umgang mit Daten. Eine neue Initiative des Stifterverbandes will beide Seiten zusammenbringen. Datagroup Business 2 Science heißt das Projekt, in dem sich namhafte Unternehmen und Forschungseinrichtungen zusammenschließen, um eine bessere Nutzung von Daten zu ermöglichen (s. Infokasten). Eine Symbiose soll dadurch ermöglicht werden: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler brauchen oft Daten aus der Wirtschaft, um an Innovationen zu arbeiten – und umgekehrt sind Unternehmen auf Ideen und Erkenntnisse aus der Forschung angewiesen. Wegen schwieriger Datenschutzbestimmungen, aus Geheimhaltungsgründen und oft auch schlicht wegen bürokratischer Hindernisse ist eine reibungslose Zusammenarbeit bislang oft gescheitert.

„In allen Wissenschaftsbereichen gibt es einen sehr hohen Datenbedarf, in den Geistes- und Sozialwissenschaften ebenso wie im Ingenieurwesen und bei der Gesundheitsforschung“, sagt Heide Ahrens, die Generalsekretärin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). „Und wir können quasi dabei zusehen, wie dieser Bedarf ständig weiter wächst.“ In der Coronapandemie beispielsweise waren Gesundheitsdaten die Grundlage dafür, die Übertragungsdynamik festzustellen, Wechselwirkungen mit anderen Erkrankungen zu erkennen und natürlich dafür, Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Die Steuerung der Energienetze funktioniert in Zeiten der Energiewende nicht ohne detaillierte Daten, eine nachhaltige Mobilität basiert ebenso auf Daten wie die Planung von neuen Infrastrukturprojekten, eine hochmoderne Landwirtschaft und die Entwicklung von innovativen Maschinen. „Benötigt werden Daten aus der Wirtschaft, aus öffentlichen Einrichtungen und aus der Forschung, um hier etwas zu bewegen. Und es ist wichtig, dass dafür die richtigen Schnittstellen entstehen.“

Hintergrund

Mit der Datagroup Business 2 Science bringt der Stifterverband Unternehmen und Wissenschafts­einrichtungen zusammen, die sich aktiv mit dem Thema Daten(nach)nutzung beschäftigen, es weiterentwickeln und mitgestalten möchten. Die Datagroup will Bedingungen und Anwendungs­beispiele herausarbeiten, unter denen eine bessere Datenteilhabe ermöglicht wird. Beispielsweise müssen im Rahmen einer „Datenspende“ notwendige Infrastrukturen, Interoperabilität, Qualitätssicherung, Nutzungs­bedingungen und Kompensationsleistungen beachtet werden. Aus der Initiative heraus entstehende Modelle sollen sichtbar gemacht und in den politischen Raum kommuniziert werden. 

 

„In allen Wissenschaftsbereichen gibt es einen sehr hohen Datenbedarf, in den Geistes- und Sozialwissenschaften ebenso wie im Ingenieurwesen und bei der Gesundheitsforschung.“

Heide Ahrens
DFG-Generalsekretärin

Wirtschaft und Wissenschaft arbeiten zusammen

Da sind zum Beispiel die Ingenieurwissenschaften. „Stellen Sie sich ein mittelständisches Unternehmen vor, das eine hochmoderne digitale Fertigung aufbaut“, sagt Sicco Lehmann-Brauns. Er arbeitet bei Siemens im Technologie- und Innovationsmanagement und kennt solche Fälle aus der täglichen Praxis. „Die Grundlage dafür bildet die Analyse der Produktionsdaten, die eine intelligente Steuerung der Maschinen ermöglicht. Nur: Mittelständische Unternehmen haben oft nicht ausreichend Know-how und Ressourcen, um Standardtools anzupassen oder sogar KI-gestützte Anwendungen zu nutzen.“ Siemens als Automatisierungs- und Plattformanbieter hat beispielsweise in einem Projekt zusammen mit regionalen Forschungseinrichtungen dazu beigetragen, dass gemeinsam Datenkompetenz aufgebaut werden kann. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können dann auf Basis echter Fertigungsdaten ihre Algorithmen weiterentwickeln. „Davon haben alle etwas: Die Unternehmen verbessern ihre Produktion, die Forschung validiert ihre KI-Modelle“, bilanziert Sicco Lehmann-Brauns.

Für ihn ist das ein Paradebeispiel dafür, wie Wirtschaft und Wissenschaft im Bereich der Datennutzung zusammenarbeiten können. „Solche Kooperationen müssen für alle Beteiligten einen Vorteil bringen“, ist sein Credo. Ihm schwebt ein wechselseitiger Datenfluss auf Basis eines vertraglichen Rechtemanagements vor. Vereinfacht gesagt: Die Forschung kann Daten aus der Wirtschaft nutzen und stellt eigene Daten wiederum auch Unternehmen zur Verfügung. Und in diesem Miteinander entstehen Innovationen. Für diesen Austausch die Bedingungen weiter zu verbessern – das ist es, was er sich von der Stifterverbands-Initiative Datagroup Business 2 Science erhofft.

Tatsächlich prallen an dieser Stelle oft unterschiedliche Erwartungen zusammen: Die Wirtschaft sieht ihre Daten als materielles Gut, das vor Konkurrenten geschützt werden muss und einen Nutzen bringen soll. Forscherinnen und Forscher hingegen betonen immer wieder die Freiheit der Wissenschaft und den Wert von Arbeiten, die nicht der Verwertungslogik unterliegen. Und: Neben juristischen Fragen gibt es auch zahlreiche technische Aspekte zu beachten, damit ein Datenaustausch reibungslos funktioniert. Die aktuelle Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, dass sie für genau diese Zwecke ein Forschungsdatengesetz verabschieden will. Wie dabei die Klippen umschifft werden sollen, ist noch nicht geklärt.

„Davon haben alle etwas: Die Unternehmen verbessern ihre Produktion, die Forschung validiert ihre KI-Modelle.“

Sicco Lehmann-Brauns
Senior Director Research and Innovation Policy bei Siemens

Der Rostocker Forscher Emilio Zagheni gehört zu jenen Wissenschaftlern, die immer wieder auf Daten angewiesen sind. Zagheni ist geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung. „Daten sind das neue Öl“, so heißt es bei den Demografen schon länger. Die Bevölkerungsforschung arbeitet seit Jahrzehnten mit Daten, schließlich baut die gesamte Disziplin auf der Auswertung von Statistiken auf – und gerade deshalb kann Emilio Zagheni wertvolle Erfahrungen beisteuern. „Wenn Daten das neue Öl sind“, sagt er, „denkt man als Erstes an Ölbohrtürme. Man sollte sich aber lieber Ölfarben vorstellen, wie Künstlerinnen und Künstler sie verwenden: Wenn wir sie in den Händen halten, können wir damit fast beliebig viele Kunstwerke anfertigen.“ Die Daten, das soll sein Vergleich ausdrücken, sind für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein grundlegendes Handwerkszeug – und was früher vor allem für Statistikerinnen und Statistiker gegolten hat, ist mittlerweile Arbeitsvoraussetzung in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen.

 „Die Wissenschaft ist aber keine Bittstellerin, wenn es um Daten geht“, sagt Heide Ahrens, die DFG-Generalsekretärin. Den Begriff der „Datenspenden“, bei dem Unternehmen gewissermaßen zur Zweitnutzung einige Informationen an die Forschung abgeben, hält sie für irreführend: Nötig sei eine gleichberechtigte Partnerschaft. „Die Wissenschaft hat bewiesen, dass sie mit Daten relevante neue Erkenntnisse auf drängende Fragen der Zeit hervorbringen kann“, so Heide Ahrens. „Und ich sehe sehr viel Potenzial, wenn sich noch weitere Daten aus der Wirtschaft zu diesem Zwecke nutzen ließen.“

Bei Celonis, dem Münchner Data-Mining-Unternehmen, hat man mit Forschungskooperationen langjährige Erfahrungen. Mit mehr als 800 Universitäten und Forschungseinrichtungen auf der ganzen Welt arbeite man zusammen, überwiegend aus dem Bereich des Wirtschaftsingenieurwesens, betont Jerome Geyer-Klingeberg. Er leitet ein 15-köpfiges Team, das sich um diese Kooperationen kümmert: „Wir sind gewissermaßen die Übersetzer zwischen dem Unternehmen und der akademischen Welt“, sagt er. Das Ergebnis sei diese Mühe wert – für alle Beteiligten: Durch die Zusammenarbeit ließen sich Innovationen vorantreiben, zugleich würden an den Hochschulen neue Datenspezialisten ausgebildet.

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