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Muss wirklich jeder zum Informatiker werden?

Porträt Peter Purgathofer
Peter Purgathofer (Foto: Peter Rigaud)
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Herr Purgathofer, hier im Wiener Kaffeehaus gibt es ja nicht einmal Steckdosen neben den Plüschsesseln. Ist das nicht ein allzu analoger Ort für ein Gespräch über die Informatik?
Aber nein! Es ist ein Grundbedürfnis, noch Analoges zu haben. Ich ziehe mich oft ins Kaffeehaus zurück, um in Ruhe nachzudenken. Und dieses hier ist übrigens besonders analog: Haben Sie gesehen, dass die Kellner noch Zettel und Stift in der Hand haben und die Bestellung in unleserlicher Krakelei an die Küche weiterreichen? In den 1970er-Jahren gab es ja mal die Vision von vollautomatischen Restaurants, in denen Maschinen die Bedienung übernehmen. Ich bin ganz froh, dass es hier Menschen sind, die an den Tisch kommen und Kaffee und Wasser bringen.

Sie sprechen von der Informatik als ­Betriebssystem der modernen Gesellschaft. Ist das dann nicht zu überspitzt formuliert?
Lassen Sie uns ein Gedankenspiel machen: Wir schalten überall die Computer und das Internet aus. Natürlich können wir dann noch hier im Kaffeehaus sitzen – aber der Besitzer kann keinen Nachschub mehr bestellen. Genauso die Supermärkte und Tankstellen, die wären ganz schön leer. Die meisten Geschäfte gingen innerhalb von 24 Stunden bankrott, die Banken vermutlich noch schneller, weil sie ja auf der Vernetzung aufgebaut sind. Die Informatik ist zu einem infrastrukturellen Fundament geworden, auf dem alles funktioniert – auch wenn man das lange Zeit nicht sehen wollte.

Nachdenken und Tee trinken: Peter Purgathofer im Interview
Nachdenken und Tee trinken: Peter Purgathofer (r.) im Interview (Foto: Peter Rigaud)
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Nachdenken und Tee trinken: Peter Purgathofer (r.) im Interview

Läuft diese Veränderung nur im Untergrund ab, wie Sie es skizzieren, oder hat sie Einfluss auf die Gesellschaft?
Ja, den hat sie natürlich! Wenn ich daran denke, wie ich mich im Alter von 17 oder 18 Jahren verabredet habe: Ich habe mit einem Freund abgemacht, dass wir uns am Nachmittag anrufen, und da warteten wir dann in der Nähe dieses Telefons mit seiner Strippe, bis es klingelte. Wenn wir uns dann auf einen Ort und eine Zeit für ein Treffen geeinigt hatten, war alles fix und unverhandelbar bis zu dem Moment des tatsächlichen Treffens. Und heute, in der Generation meiner Kinder, ist die Kommunikation eine völlig andere geworden – übrigens auch der Umgang mit Wissen: Sie organisiert sich selbst den Zugang zu den Dingen, über die sie etwas wissen will.

Ist sich die Gesellschaft außerhalb von Informatikerkreisen eigentlich dessen bewusst, dass sie nur noch mit diesem Betriebssystem funktioniert?
Nein, überhaupt nicht. Ich erinnere mich daran, dass ich vor vielen Jahren auf einer Veranstaltung war, bei der ein Unternehmer sehr plastisch schilderte, dass er im Prinzip nur Daten aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammenführt und dann anbietet – dass er also Daten aus Handelsregistern, aus der Schul- und Ausbildungszeit, über Grundbesitz und so weiter konkreten Personen zuordnet und daraus zusammenhängende Datensätze macht. Da ging ein Entsetzen durchs Publikum, die Leute waren wie überfahren.

„Die Art, wie wir heute Code produzieren, ist völlig veraltet, seine Qualität miserabel.“

Peter Purgathofer
Informatiker

Aber heute weiß doch jeder, dass große Konzerne persönliche Daten sammeln, und niemand schreit auf.
Das hängt damit zusammen, dass sich die IT-Industrie sehr gut verkauft. Sie schafft einen Komfort, den es früher nicht gab. Das ist für viele Leute ein gutes Angebot, für das sie im Gegenzug ihre persönlichen Daten preisgeben. Wir lernen schon in der Schule, wie Diktaturen ihre Bürger kontrollieren und alle möglichen Daten sammeln – ganz ähnlich handeln auch viele Firmen aus dem IT-Bereich. Der Unterschied ist nur, dass sie die Daten nicht zur Unterdrückung und zum Einfordern von Gehorsam verwenden, sondern um möglichst viel Geld aus den Leuten herauszuholen.

Welche Bedingungen muss die Informatik erfüllen, damit das Betriebssystem der modernen Gesellschaft nicht auf einmal Schaden anrichtet?
Ich bin der Überzeugung, dass so etwas wie die Datenschutz-Grundverordnung ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist; genauso übrigens wie die noch fehlende ePrivacy-Verordnung, in der es um die Festlegung geht, dass meine Daten in meinem Besitz sind und niemand sie verarbeiten darf, wenn ich das nicht explizit erlaubt habe.

Sie schlagen also eine Regulierung vor. Wie wäre es stattdessen mit einem aufgeklärten Bürgertum – ist das realistisch im Zeitalter der Informatik?
Ich sehe da zwei Aspekte. Der erste ist, dass sich die gesellschaftlichen Diskussionen in Begrifflichkeiten verlieren, die niemand mehr versteht oder die eigentlich sogar Lügen sind. Maschinelles Lernen, Künstliche Intelligenz und neuronale Netze – das sind im Grunde genommen alles Schwindelbegriffe. Neuronale Netze funktionieren nicht so wie ein Gehirn – es handelt sich dabei um Netzwerke, in denen Entscheidungen aufgrund von Gewichtungen getroffen werden. Das ist letztlich ein ganz einfacher mathematischer Vorgang, bei dem Neuronen keinerlei Rolle spielen. Und das maschinelle Lernen beschreibt auch kein Lernen, sondern eine bloße Konditionierung. Wie soll man da einen rationalen, einen aufgeklärten Diskurs über Algorithmen führen, wenn wir nicht einmal gemeinsame Begrifflichkeiten haben, in denen wir uns alle auskennen? Das ist der eine Aspekt.

Das Interview mit Peter Purgathofer finden Sie auch in unserer Print-Publikation CARTA 2020. Ein Heft, dem wir uns in ganz Deutschland und Europa auf die Suche nach der Bildung der Zukunft machen. Ein Heft voller Geschichten über Menschen, die die Bildung besser machen wollen, um die digitale Welt von morgen mitzugestalten. 

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Und der andere?
Die Art und Weise, wie wir Wissen bewahren, hat sich in Tausenden Jahren Zivilisationsgeschichte immer wieder verändert. Am Anfang wurden Geschichten nur mündlich weitergegeben, dann wurden sie mit der Entwicklung der Schrift notiert. Es folgte der Buchdruck, der große Auflagen erlaubte und bis zur Tageszeitung mit massenhafter Verbreitung führte. Konnten einst nur einige wenige lesen, war es nun fast jeder. Es sieht so aus, als wäre der digitale Code jetzt ein weiterer Schritt – eine neue Form, Wissen auszudrücken und aufzuheben. Und wir müssen uns überlegen, wie wir gesellschaftlich damit umgehen wollen, dass nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der Bevölkerung diese Form der Wissenserzeugung und -codierung beherrscht.

Sie sehen die Entwicklung des digitalen Codes in einer Linie mit der Erfindung des Buchdrucks?
Das ist eine Möglichkeit. Vielleicht überschätze ich das, aber fest steht, dass Code eine neue Form der Aufbewahrung von Wissen ist.

Das würde heißen, dass wir alle Informatiker werden müssten, so wie sich nach der Erfindung des Buchdrucks das Lesen verbreitete?
Bevor ich da ein eindeutiges Ja sage, würde ich lieber den Prozess der nächsten 50 Jahre reflektiert beobachten und sehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln.

50 Jahre? Das ist doch viel zu viel Zeit angesichts des immer höheren Tempos der Veränderung, oder?
Die Art, wie wir heute Code produzieren, ist völlig veraltet, seine Qualität miserabel. Die scheinbare Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung entsteht nur, weil immer schnellere Prozessoren und Server verfügbar sind und der Speicherplatz immer billiger wird. Damit können wir die lausige Qualität von Code wettmachen. Es gibt keinen Code, der fehlerfrei ist, und wir benötigen riesige Mengen Code für die einfachsten Dinge. Daran müssen wir zunächst etwas ändern; das ist eine der großen Herausforderungen der Informatik als Forschungsfeld. Diese Entwicklung sollte man beobachten – und erst dann die Frage stellen, ob jeder Informatiker werden sollte. Mit der Erfindung des Buchdrucks musste ja auch nicht jeder zum Bleisetzer werden.

 

Peter Purgathofer
Peter Purgathofer (Foto: Peter Rigaud)
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Zur Person

Peter Purgathofer lehrt an der Technischen Universität Wien am Institut für Visual Computing & Human-Centered Technology. Seine Leidenschaft gilt zudem der Philosophie und der Psychologie. Für Informatikstudierende in Wien hat er einen Einführungskurs entwickelt, in dem er sie auf die Verantwortung vorbereitet, die sie als künftige Software­-Entwickler haben werden. 

„Ach Gott, dieses Denken in Schulfächern! Das hat sich irgendjemand um 1870 herum ausgedacht, und wir glauben bis heute daran.“

Peter Purgathofer
Informatiker

Nichtsdestotrotz müssen sich die Bildungseinrichtungen ja schon heute auf neue Anforderungen einstellen, wenn es künftig auch zur Mündigkeit des Bürgers gehört, dass er die digitalen Technologien versteht. Wie sollen zum Beispiel Schulen damit umgehen?
Es hat sich der Begriff des Computational Thinkings herausgebildet. Dabei geht es um eine Art algorithmisches Denken – darum, Abläufe so klar und strukturiert zu benennen, dass sie für jemand anderen nachvollziehbar sind, und zwar ohne Interpretationsspielraum. Im Bereich der Wissenschaft verstehen wir den Computer verstärkt als Angebot, um vielfältige Berechnungen durchzuführen. Forscher kommen darauf, dass sie plötzlich uralte Probleme lösen können, weil Computer da sind, mit denen sie eine Aufgabe 200.000-mal auf verschiedene Arten durchrechnen können – diese Möglichkeit gab es früher einfach nicht. Und jetzt lassen Sie uns den Spieß umdrehen: Wenn ich 200.000-mal pro Sekunde rechnen kann – könnte ich dann ein Problem nicht anders lösen als mit dieser einen Lösung, auf die ich gerade selbst gekommen bin? Das sind entscheidende Kompetenzen, die in den Schulen unbedingt vermittelt werden sollten.

Aber wie lässt sich dieses abstrakte Denken in den Unterricht einbauen – brauchen wir ein neues Schulfach?
Ach Gott, dieses Denken in Schulfächern! Das hat sich irgendjemand um 1870 herum ausgedacht, und wir glauben bis heute daran. Eigentlich wissen wir, dass Mathematik kein Schulfach ist, das für sich allein unterrichtet werden sollte, weil es in vielen anderen Bereichen von der Chemie über die Biologie bis zur Geografie eine Rolle spielen könnte. Wollen wir zu dieser schlechten Aufteilung der Schulfächer jetzt noch ein weiteres Fach hinzufügen? Oder sollen wir Inhalte aus der Informatik über alle Fächer drüberstreuen wie magischen Staub? Ich habe da keine Antwort drauf, und ich muss natürlich fairerweise dazu sagen, dass ich auch kein Pädagoge bin.

Denkweisen der Informatik

Im Informatikstudium an der Universität Wien haben Sie eine Art Studium generale eingeführt …
… und zwar ganz zu Beginn des Studiums. Wir nennen das Programm Denkweisen der Informatik, und es geht darin um Aspekte wie kritisches Denken und auch verantwortungsbewusstes Denken. 

Es geht also nicht nur um die Aufklärung des Bürgers, sondern auch um aufgeklärte Informatiker?
Neulich sagte ein sehr technisch ausgerichteter Kollege zu mir, dass er manchmal das Gefühl habe, zu diesen Heinzelmännchen zu gehören, die im Auftrag von irgendjemandem alle Aufgaben genau nach Auftrag ausführen – und dass zum Teil ganz schreckliche Dinge damit angestellt werden. Wir Informatiker haben eine Verantwortung wie Chemiker oder Physiker, wenn sie etwa eine Atombombe konstruieren. Da kann man auch nicht einfach sagen, dass man mit den Folgen nichts zu tun haben möchte. 

Wie reagieren denn die Studierenden darauf, dass sie nicht gleich anfangen mit dem Programmieren, sondern erst einmal moralische Überlegungen anstellen sollen?
(lacht) Manchmal kommen Rückmeldungen von Studierenden, die sagen: „Am Anfang dachte ich, das ist der größte Mist überhaupt. Aber im Laufe des Semesters habe ich gemerkt, was da eigentlich dahintersteckt.“ Solche Äußerungen freuen mich am meisten, weil ich merke, dass wir bei diesen Studierenden das Bewusstsein und das Denken ein bisschen ändern konnten.

Mehr von Peter Purgathofer

Wer mehr von Peter Purgathofer hören möchte, ist bei Forschergeist - dem Podcast des Stifterverbandes - richtig. In Folge 72 spricht er mit Tim Pritlove über seinen Einführungskurs für Informatiker an der TU Wien. 

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