Häufig erhalten wir etwas später das Feedback von der jeweiligen Anwenderorganisation, wie der Prozess gelaufen ist, und können diese Erfahrungen in unsere Arbeit einfließen lassen. Wir haben hierzu ein Forschungsnetzwerk gegründet, um die Ideen rund um liquid democracy gemeinsam weiterzuentwickeln und die Projekte wissenschaftlich zu evaluieren. Daraus entstehen neue Empfehlungen und wir versuchen, diese in den Prozess der Softwareentwicklung einfließen zu lassen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und neue theoretische Fragen treffen dann auf neue Lösungen zur Usability. Die Folge ist eine kontinuierliche theoretische und praktische Weiterentwicklung innerhalb eines immer größeren Netzwerkes. Die Idee dahinter ist, dass es sich auch alleine verbreiten wird, eben dadurch, dass die Ideen und die Software jeder nutzen, verändern und verbreiten kann.
Die Idee bei Open-Source-Projekten ist ja, dass alle an einer bestehenden Softwareversion weiterarbeiten und damit ihre eigene Vision umsetzen können. Bei der Entwicklung der freien Software arbeiten wir mit vielen Externen zusammen, die bei verschiedenen Projekten eigenständig mitprogrammieren und die Softwareanwendungen immer weiterentwickeln. Gleichzeitig stellen wir die Infrastruktur für viele Projekte zur Verfügung. Dies ist erst der Anfang einer eigenständigen Entdeckungsreise in die Möglichkeiten, die liquid democracy in Zukunft bieten kann.
Gibt es Erfolgsbeispiele?
Ein Projekt, das wir im Auftrag der Senatsverwaltung Berlin durchgeführt haben, ist der Onlinebeteiligungsprozess für das ehemalige Flughafengelände Tempelhofer Feld. Nach dem Volksentscheid, dass das Tempelhofer Feld nicht bebaut werden soll, hat die Senatsverwaltung die Berliner Bevölkerung gefragt, wie die riesige Fläche nun in Zukunft genutzt werden könnte. Auf der Plattform werden Ideen vorgestellt und diskutiert. Einzelne Gruppen, die auf dem Tempelhofer Feld sehr aktiv sind, zum Beispiel die freien Gärten, haben dort ebenfalls ihre Interessen eingebracht.
Kann digital unterstützte Bürgerbeteiligung die komplexe Arbeit von Bundestag und Regierung unterstützen oder sogar ersetzen?
Unterstützen ja, ersetzen nein. Das Projekt, mit dem wir hier als Verein bekannt geworden sind, war „enquetebeteiligung.de“: Im Auftrag des Deutschen Bundestages waren die Bürger eingeladen, sich direkt an der Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages zu beteiligen. Die Enquete-Kommission bestand aus 17 Abgeordneten und 17 festen Sachverständigen und bezog mit dem Modell des 18. Sachverständigen die Bürger kontinuierlich in ihre Arbeit mit ein. Ziel war die Öffnung des gesamten Arbeitsprozesses der Kommission für die Öffentlichkeit, wie es bisher im deutschen Parlamentarismus noch nicht zu erleben war. Zu Beginn konnten Themen für das Arbeitsprogramm der einzelnen Projektgruppen vorgeschlagen werden. Im weiteren Verlauf wurden von den Bürgern konkrete Handlungsempfehlungen erstellt. Wohlgemerkt: Hier handelte es sich um ein spezielles und komplexes politisches Thema, Urheberrechts- und technische Fragen spielten eine wichtige Rolle. Fachlich war dies also eine hohe Hürde, trotzdem waren die Beiträge qualitativ hochwertig. Der ganze Vorgang hat erstmals Prozesse bis in den Bundestag hinein losgetreten und es der Öffentlichkeit ermöglicht, sich an parlamentarischen Prozessen zu beteiligen. Am Ende wurden Vorschläge, die auf der Plattform eingebracht worden waren, teilweise im Wortlaut in die Handlungsempfehlungen der Kommission an den Deutschen Bundestag übernommen. Daran sieht man, dass es zusätzliche Expertise in der Bevölkerung gibt, die die Ergebnisse parlamentarischer Arbeit qualitativ verbessern kann.
Hier handelte es sich erst mal nur um Handlungsempfehlungen.
Ja, aber es war auch ein Konsultationsverfahren, kein Mitbestimmungsverfahren. Generell ist es eine große Herausforderung, Schnittstellen in den etablierten Verfahren und Entscheidungsstrukturen zu finden. Partizipation jedweder Form ist immer eine Kulturfrage der beteiligten Akteure und Organisationen. Hier ist auch der persönliche Gestaltungswille von Amtsinhabern und anderen Repräsentanten der Macht gefragt: An welcher Stelle könnte man bei einem bestehenden politischen Prozess überhaupt eine Schnittstelle schaffen, um diesen nach außen zu öffnen?