Um von der EU nach Europa, von der Staatenunion zur Bürgerunion zu kommen, dazu braucht es, um mit Joseph Schumpeter zu sprechen, gleichsam einen Akt der „schöpferischen Zerstörung“. Den kann man im realpolitischen Raum natürlich nur schwer inszenieren. Genau dies ist aber der Traum, um nicht zu sagen die Agenda von vielen zivilgesellschaftlichen Kräften, die jetzt in Deutschland, in Polen, in Frankeich oder wo auch immer in Europa nach einer constituante européenne rufen. „Ein Markt, eine Währung“, hieß der Schlachtruf der Währungsunion in den Neunzigerjahren, der heute komplementiert gehört: „Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie.“ Denn die Frage nach der nachnationalen Organisation einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie in Europa ist akut aufgeworfen. Merkels Diktum aus der Eurokrise „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ muss darum korrigiert werden. In Wirklichkeit gehört der Satz umgedreht: „Bleibt der Euro so, wie er ist, scheitert die europäische Demokratie.“ Genau dies erleben wir allenthalben vor unseren Augen und fast jeden Tag bricht inzwischen in Europa ein Stückchen Demokratie mehr weg.
Mit kleinen EU-Reformschritten – wobei man zum Beispiel den letzten EU-Gipfel von Bratislava ja noch nicht einmal als solchen bezeichnen kann – ist das Ruder einer drohenden europäischen Dystopie wohl nicht mehr herumzureißen. Und wer den Untergang nicht will, siehe Benjamin Kunkel, muss also die Utopie wagen, die, wie Walter Benjamin schon so schön schrieb, in jedem Moment greifbar ist, wenn sich nur genug Menschen auf den Weg machen.
Die Kontingenz der Geschichte erlaubt keinen Weg zurück in die Geschichte – und darum gibt es realpolitisch auch keine Möglichkeit eines „Rückbaus Europas“ zu Nationalstaaten, die längst nicht mehr das sind, was sie einmal waren, bevor das europäische Einigungsprojekt der letzten Generation sich erst in Form von EWG und dann in Form von EU über den europäischen Kontinent entfaltet hat. Die Populisten sind also die eigentlichen nostalgischen Träumer; und der Verweis der nationalen Realpolitiker, der selbst ernannten Pragmatiker, auf vermeintlich utopische Ideen derer, die einen neuen Entwurf für Europa wagen, rechtfertigt nur das eigene europäische Nichtstun und zeigt lediglich die allgemeine Mutlosigkeit der Politik zur Utopie.
Darum sind die Träumer die wirklichen Realisten und Mutigen – und zwar die, die der Meinung sind, dass „Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie“ gar kein Traum bleiben muss; nein, dass wir in Wirklichkeit nur einen Fingerzeig davon entfernt sind, nach so vielen Jahren der europäischen Errungenschaften. Dass wir im Grunde nur noch die letzten, die zugegebenermaßen schwersten Meter gehen müssten. Nach so viel gemeinsamer Wegstrecke.