Mehr Vorfreude auf sich selbst

image
Foto: iStock/MicroStockHub
©

Unsere Gesellschaft gibt viel Geld aus, um Störungen und Auffälliges in unserer Gesellschaft zu beseitigen. Auffällige Kinder bekommen Therapien, Schulpsychologen kümmern sich um störende Ereignisse und Schüler in der Gemeinschaft. Zappelschüler werden mit Ritalin befriedet. Erzieher im Kindergarten klagen, dass manche Kinder nicht richtig sprechen können, manche nicht einmal beim Übergang in die Schule. Grundschullehrer beklagen, dass viele Schultüteninhaber „nicht so weit sind“. Bald darauf beginnt die eigentliche Schlacht um die Gymnasialreife. Auf jeder Stufe gibt es eine hohe Prozentzahl von Kindern, die nicht so weit sind. 

Dabei geht es nicht um Wissen, sondern um Erziehung. Gut erzogene Kinder prügeln nicht, sie sind diszipliniert bei der Sache oder zumindest gutwillig. Sie stören nicht, handeln aus Einsicht, hören zu. Fleiß, Betragen, Ordnung, Mitarbeit – so lauteten die Kopfnoten meines Zeugnisses. Ist es zu viel verlangt, diese Kopfnoten ernst zu nehmen? Ist es zu viel verlangt von den Eltern, sich um solche Eigenschaften zu kümmern? Viele sagen, das sei Aufgabe der Lehrer, und andere meinen, dass „es sich verwächst“. Das kommt vor, aber sicher ist es nicht, oder?

Ich schaue in meinem alten Brockhaus (1960) nach:

„Bildung: Der Vorgang geistiger Formung, auch die innere Gestalt, zu der der Mensch gelangen kann, wenn er seine Anlagen an den geistigen Gehalten seiner Lebenswelt entwickelt. Gebildet ist nicht, wer nur Kenntnisse besitzt und Praktiken beherrscht, sondern der durch sein Wissen und Können teilhat am geistigen Leben; wer das Wertvolle erfasst, wer Sinn hat für Würde des Menschen, wer Takt, Anstand, Ehrfurcht, Verständnis, Aufgeschlossenheit, Geschmack und Urteil erworben hat. Gebildet ist in einem Lebenskreis, wer den wertvollen Inhalt des dort überlieferten oder zugänglichen Geistes in eine persönlich verfügbare Form verwandelt hat.“

Kommt Bildung, so verstanden, von allein? Die groben Fehler und Auswüchse mögen verwachsen, aber Bildung, so verstanden, ist ein längerer aktiver Reifeprozess. Ein aktiver! Bulimie-Lernen vor Klausuren aus Notenfurcht verhütet nur, dass man komplett ungebildet bleibt. Die Universität ist so organisiert, dass sie dem gut erzogenen Menschen mit dem Reifezeugnis im obigen Bildungssinne mit einer Fülle von angebotener Selbstverwirklichung in einem Lieblingsfach versorgt. Er lernt als Studiosus (der Eifrige) gern und schnell, er entwickelt seine Persönlichkeit ...

„Man glaubt, dass man eben notfalls am ersten Arbeitstag den Schlendrian aufgibt und nun per einmaliger Willensbildung eine Persönlichkeit ist, weil es nun Ge-haltserhöhungen dafür gibt. “

image
Gunter Dueck (Foto: Michael Herdlein)
©
Gunter Dueck

fat smoker syndrome

Das alles geschieht nicht (mehr). Als ich studierte, gehörte ich den circa sieben privilegierten Prozent eines Jahrgangs an, die studieren „durften“, nicht wie heute „sollen“ oder „müssen“. Auch damals schrieb schon die Hälfte meiner Mitstudenten ab. Das war pragmatisch gesehen egal, denn mit einem Diplom „in der Tasche“ (nicht notwendig im Kopf) bekam man garantiert eine gute Stelle. Das ist heute anders. Heute braucht man Mitarbeiter, die mit Menschen klarkommen, gut Englisch sprechen, die einen Sinn für professionelle Arbeit haben, die selbstständig arbeiten können, aktiv verantwortungsbewusst Rollen einnehmen, nach besseren Lösungen suchen – jeder weiß das. 

Diese professionellen Haltungen stehen am Ende eines aktiven Reifungsprozesses. Das wird nicht verstanden. Man glaubt, dass man eben notfalls am ersten Arbeitstag den Schlendrian aufgibt und nun per einmaliger Willensbildung eine Persönlichkeit ist, weil es nun Gehaltserhöhungen dafür gibt. „Bisher habe ich auf Rechtschreibung keinen Wert gelegt. Okay, jetzt schreibe ich richtig. Bisher habe ich zu viel gegessen und 100 Kilo Übergewicht. Okay, jetzt esse ich weniger. Bisher habe ich abgeschrieben und nichts verstanden. Nun ...“ Diese Rubrik von Haltungen nennt der Management-Guru David Maister das „fat smoker syndrome“: Der übergewichtige Raucher weiß, was das Problem ist, er kennt die Lösung, er weiß, dass ihn die Lösung sicher rettet – aber es geschieht todsicher nichts. Warum nicht? Maister: „Doing what’s obvious but not easy.“

Mit diesem langen Lamento will ich sagen: Wir müssen endlich das Offensichtliche tun und nicht weiter fragen, was ganz genau zu tun ist. Leute, es ist offensichtlich: Wer abnehmen will, muss weniger essen, aber er studiert und probiert Diäten, er will davonkommen. Das Offensichtliche wird geleugnet.

Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)
Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)
©

Direct Dueck

Gunter Dueck besitzt die Gabe, einen in innere Jubelstürme ausbrechen zu lassen. Das gelingt ihm, wenn man ihn als Vortragenden auf der Bühne erlebt, aber auch mit seinen Texten und Büchern, mit seinen Interviews. Er schafft es auf ganz außergewöhnliche Weise die Dinge auf den Punkt zu bringen: Oft schleicht er sich erst an ein Thema heran, um dann umso hartnäckiger ein Problem herauszuarbeiten. Seine Thesen trägt er zumeist ruhig und gelassen vor, und doch sind sie oft – das merkt man manchmal erst später – messerscharfe Fallbeile. Dann erheben sich – siehe oben – die inneren Jubelstürme. Und oft jubeln ihm die Menschen nicht nur innerlich zu: Auf großen Tagungen wie der re:publica ist er ein unumstrittener Star. Umso schöner, dass er das MERTON-Magazin mit einer regelmäßigen Kolumne bereichert. Er nennt sie „Direct Dueck“, was auf ein paar schöne scharfe Fallbeile in Textform hoffen lässt. 

Alle MERTON-Kolumnen von Gunter Dueck

Was fangen wir mit Leuten an, die mit 28 Jahren den Doktor „in der Tasche“ haben und keine Persönlichkeit in der Nähe des Bildungs- oder Professionalitätsideals entwickelt haben? Es ist zu spät, oder? Können wir an der Universität die Entwicklung der Persönlichkeit fördern? Könnten wir nicht versuchen, junge Menschen nachzuerziehen? Was wäre zu tun, abgesehen davon, dass man früher damit beginnen könnte? 

Es ist einigermaßen offensichtlich: Coachings, Assessment-Center, ehrlich hartes Feedback bei Seminarvorträgen (anstatt Schweigen der uninteressierten Lämmer und eines teilnahmslos leer blickenden Professors), am Studium generale teilnehmen, Arbeit als Werkstudent zur Persönlichkeitsentwicklung (nicht nur zum Geldverdienen), psychologische Beratung („Sie sind zu introvertiert“, „Sie wirken steif“, „Sie reden und reden und achten nicht auf die Zuhörer“, „Sie stellen sich zu sehr in den Vordergrund“, „Sie stellen Ihr Licht unter den Scheffel“ etc.) – diese Erfahrungen mit der eigenen Psyche sind hart, ich weiß nach etlichen solcher Assessments, wovon ich rede. Lassen Sie sich zur Probe einmal ehrlich kritisieren, sodass es sehr wehtut. Danach prüfen Sie Ihr Herz: Sind Sie dankbar dafür oder hassen Sie den Überbringer der schlechten Nachricht? 

„Der Thor hält Rat für Feindschaft“

Hören Sie bitte die ewigen Worte – die hängen oben in der Moschee des Schwetzinger Schlossgartens: „Der Thor hält Rat für Feindschaft.“ Sehr viele Menschen stoßen Feedback als Übelwollen ab: „Der ist doch selbst ein Arschloch! Soll ich mir von DEM was sagen lassen?“ Wenn Sie zu diesen gehören, sind Sie wahrscheinlich verloren. Denn der Aufwand, Ihre Ohren von außen aufzuschließen, rechtfertigt nicht den zu erwartenden Ertrag. Menschen, die sich gegen die überwiegende Meinung ihrer Umgebung für gut befinden und nicht mehr zuhören, sind hoffnungslos. Ich will sagen: Wer seine Persönlichkeit entwickeln möchte, der kann es doch! Aber diejenigen, die es am nötigsten haben – diejenigen, die man zwingen müsste –, die wehren ab.

Ich engagiere mich gerade für ein Unternehmen, für die Sharpist GmbH. Dort wird Onlinecoaching angeboten. Die Idee dahinter ist: Wer Onlinefeedback und -rat bekommt, wird nicht in der Seele verletzt, weil niemand in seinem realen Leben davon erfährt ... Denn oftmals passiert folgendes: Wenn jemand zum Beispiel Führungskraft werden will, dann wird er in der Firma beobachtet, ständig bewertet und kritisiert. Wenn er nicht durchkommt (was eher die Regel ist), kränkt ihn das bis hin zur seelischen Versenkung. Man mag deshalb nicht vom Vorgesetzten erzogen werden, nicht vom Lehrer oder Professor, auch nicht mehr von den Eltern (das hätte ja früher klappen müssen) und nicht vom Lebenspartner oder von den eigenen Kindern. Onlinecoaching hingegen könnte ein Angebot sein ...

Was wir aber mindestens brauchen, ist ein Problembewusstsein, dazu eine aktive Mitwirkung an der eigenen Nacherziehung und besser noch: eine Vorfreude auf sich selbst. 

Tauchen Sie tiefer in unsere Insights-Themen ein.
Zu den Insights