Frau Hahn, was ist Rationalität?
Darauf gibt es verschiedene nicht miteinander vereinbare Antworten, denn Rationalität hat viele Facetten. Lange entsprach ein Hauptverständnis rationalen Handelns der mathematisch-ökonomisch formulierten Theorie des Homo oeconomicus. Danach handeln Menschen rational, indem sie aus verschiedenen Optionen jeweils die Handlung wählen, mit der sie am stärksten ihre eigenen Präferenzen realisieren oder, anders gesagt, den größtmöglichen persönlichen Nutzen erzielen. Vorausgesetzt wird dabei allerdings, dass der Handelnde alle verfügbaren Handlungsoptionen und auch deren Wirkung kennt. Das ist natürlich ebenso wenig realistisch wie die These, dass der Mensch stets ausschließlich danach strebt, den eigenen Nutzen zu maximieren. Denn damit lassen sich zum Beispiel altruistische Handlungen nicht erklären. Mit der Zeit entwickelten Wissenschaftler in Anlehnung an den US-amerikanischen Sozialwissenschaftler und Nobelpreisträger Herbert Simon deshalb ein anderes Rationalitätskonzept: das der bounded rationality, zu Deutsch „begrenzte Rationalität“. Herzstück der bounded rationality ist die Erkenntnis, dass Menschen eben nicht alle möglichen Handlungsoptionen kennen, geschweige denn deren Auswirkungen, sondern dass sie sich auch an Regeln orientieren und deshalb nur begrenzt rational handeln.
Impact of Science
„Rationalität hat viele Facetten“

Stellen Sie sich als Beispiel einen Menschen vor, der sehr abergläubisch ist. Er ist davon überzeugt, ein Unglück heraufzubeschwören, wenn er unter einer Leiter hindurchgeht. Deshalb umrundet er jede Leiter, der er begegnet. Subjektiv gesehen handelt er damit rational: Aus seiner individuellen Sicht wählt er eine geeignete Handlung (nicht unter einer Leiter hindurchgehen), um sein Ziel (Unglück vermeiden) zu erreichen. Objektiv betrachtet ist dieses Verhalten aber nicht rational, denn es ist nicht erwiesen, dass sich Unglück auf die geschilderte Weise verhindern lässt.
Was bedeutet rationales Handeln für eine Gesellschaft?
Die Varianten rationalen Handelns, die sich auf Regeln beziehen, spielen eine wichtige Rolle in Gemeinschaften, regelkonformes Verhalten ist quasi der Schmierstoff einer Gesellschaft. Denn nur wenn sich der Einzelne überwiegend an den geltenden Regeln der Gemeinschaft orientiert, kann diese dauerhaft funktionieren. Bei der Entstehung dieser Regeln muss man zwischen der informellen und der formellen Entwicklung unterscheiden: Im ersten Fall spielen sich Regeln häufig über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg in einer Gesellschaft ein. Beispiele sind das in westlichen Ländern verbreitete Händeschütteln bei der Begrüßung oder aber auch moralische Regeln wie das Gebot, Versprechen einzuhalten, oder das Verbot zu lügen. Im zweiten Fall, den formellen Regeln, werden diese hingegen von eigens dazu ermächtigten Instanzen vorgegeben und auch in Kraft gesetzt. Beispiele dafür sind nicht nur strafrechtliche Normen, sondern auch Umweltnormen oder Normen, die den Abschluss von Verträgen oder die Änderung des Familienstandes regulieren.
Wenn Regeln kollidieren

Können Widersprüche zwischen informellen gesellschaftlichen Normen und formellen Regelungen entstehen? Wenn ja, woran orientiert sich dann das Verhalten der Menschen?
Die formellen und informellen Regeln können, müssen aber nicht übereinstimmen. In Demokratien beeinflussen sie sich meist gegenseitig. So können aus informellen Impulsen Gesetze entstehen. Denken Sie etwa an die kürzlich verabschiedete Ehe für alle, die nun gesetzlich fixiert, was hierzulande bereits gelebte und weitgehend akzeptierte Praxis ist. Andersherum gehen rechtliche Normen den Menschen mit der Zeit in Fleisch und Blut über oder bestärken informelle Normen. Die meisten von uns werden zum Beispiel nicht stehlen. Und zwar nicht nur, weil es gesetzlich verboten ist, sondern auch, weil es den eigenen Wertvorstellungen widerspricht. Anders als in Demokratien kommt es in Diktaturen sicherlich häufiger zu Widersprüchen zwischen formalen staatlichen Regelungen und informellen moralischen Normen. Woran die Menschen sich dann eher orientieren, hängt von vielen Faktoren ab. Zum einen spielen Sanktionen, mit denen der Staat regelwidriges Verhalten ahndet, sowie die Wahrscheinlichkeit, dabei entdeckt zu werden, eine Rolle, zum anderen aber auch, wie stark sich jemand moralischen Normen verbunden fühlt und ob sich Mitstreiter für abweichende Überzeugungen finden. Doch auch in Demokratien können formelle und informelle Regeln kollidieren. Ein Beispiel dafür ist der in öffentlichen Parks herrschende Leinenzwang für Hunde, den viele Hundebesitzer jedoch ignorieren, weil sie der informellen Regel anhängen, ihren Vierbeinern Auslauf zu bieten. Die Angst vor Entdeckung ist vergleichsweise gering, es gibt viele andere, die es genauso machen, und auch die mögliche Sanktionierung ist überschaubar.
„Regelkonformes Verhalten ist der Schmierstoff einer Gesellschaft. “

Sie haben die Auszeichnung der Max Uwe Redler Stiftung für Ihre Habilitationsschrift Rationalität. Eine Kartierung erhalten. Was ist die Essenz Ihres Werkes?
Ausgangspunkt meiner Arbeit waren die vielen oft miteinander inkompatiblen Bedeutungen und Interpretationen, die in der wissenschaftlichen Debatte mit dem Begriff der Rationalität verbunden sind. Dies hat regelmäßig zu Missverständnissen und damit verbundenen (Schein-)Disputen sowie letztlich zu einem Auf-der-Stelle-Treten der wissenschaftlichen Debatte geführt. Mit einer erweiterten Fragestellung wird die verfahrene Debatte wieder in Gang gebracht. Warum ist es überhaupt wichtig, von rationalem und irrationalem Handeln zu sprechen? Was sind die Unterscheidungsinteressen und Zielsetzungen, bezüglich derer die Rede von (ir)rationalem Handeln eine zentrale Rolle erhält? In dieser erweiterten, differenzierten Sicht lässt sich ein entsprechendes Begriffsfeld entwickeln, das Rationalität in ihren verschiedensten Ausprägungen und Bedeutungen erfasst, präzisiert, benennt, sortiert und so für verschiedene wissenschaftliche Fragestellungen nutzbar macht.
