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„Corona wirkt wie eine riesige Bremse bei digitalen Innovationen“

Foto: iStock.com/PhonlamaiPhoto
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Herr Dr. Butollo, Roboter sind in der Produktion auf dem Vormarsch und nehmen uns immer mehr Arbeit ab. Ab wann bleiben die Arbeiter zu Hause?
Die bleiben gar nicht zu Hause, allerhöchstens im Homeoffice. Wir haben seit 150 Jahren Automatisierung und derzeit einen historischen Beschäftigungshöchststand. Jedenfalls war das bis zur Coronakrise so. Die Prognose, dass menschliche Arbeit durch Robotik ersetzt wird, ist im Prinzip so alt wie der Kapitalismus oder die Marktwirtschaft. Man fixierte sich auf technische Potenziale und sagte stets das Ende menschlicher Arbeit voraus. Aber gleichzeitig wurden immer neue Bedürfnisse und Arbeitsfelder geschaffen.

Also doch keine vierte industrielle Revolution?
Ich bin eher skeptisch, ob wir eine große Revolution erleben. Viele Ansätze spinnen ganz grob gesagt das Rad von Lean Production weiter. Da geht es einerseits um die Effizienzsteigerung von Prozessen, um Rationalisierung, um weitere Flexibilisierung. Vor allem befinden sich die meisten Unternehmen zurzeit in einem Suchprozess. Sie schauen, welche Technologien sich rentieren oder auch nicht. In der Fläche ist der Schub weit weniger spektakulär, als es der Begriff Industrie 4.0 erwarten lässt.

In manchen Feldern tut sich aber sehr wohl einiges. Vor allem dort, wo es um standardisierte Verfahren geht und wo die Technologie nicht so aufwendig und teuer ist. Banken und Versicherungen führen beispielsweise heute Software für Routinetätigkeiten in der Sachbearbeitung ein. Etwa für Tests der Kreditwürdigkeit. Da geht es um Mustererkennung. Dieses Matchmaking kann heute durch künstliche Intelligenz, also durch selbstlernende Systeme, perfektioniert werden.

Florian Butollo (Foto: Martina Sander-Blank)
Florian Butollo (Foto: Martina Sander-Blank)
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Zur Person

Florian Butollo, 43, hat 2014 in Soziologie promoviert und leitet seit 2017 die Forschungsgruppe „Arbeit in hochautomatisierten, digital-hybriden Prozessen“ am Berliner Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft. Schwerpunkt seiner Forschung ist das Verhältnis von technischem Wandel und Veränderungen in der Arbeitswelt. Seit 2018 berät er als Sachverständiger in der Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz (KI) den Deutschen Bundestag. 

Die Automatisierung zieht ins Büro ein …
Genau. Die Autoindustrie ist ja schon mit neuer Technik ausgestattet, sehr hoch automatisiert mit avancierter Produktionstechnik. Wirklich neu ist, dass es um Automatisierungstechnologien geht, die geistige Arbeit, natürlich auch in der Verwaltung von Industrieunternehmen, übernehmen können.

Hinzu kommen veränderte Formen der Zusammenarbeit wie agiles Arbeiten und Lean Production im Angestelltenbereich. Manches davon gleicht einer Industrialisierung geistiger Arbeit. Auch im Büro geht es nun um das Duett aus Standardisierung bei gleichzeitiger Abstimmung von Arbeitsprozessen auf die unmittelbaren Markterfordernisse.

Und wie sieht es in der Fertigung aus?
In Fertigungsunternehmen spielt Software zur Kontrolle der Produktionsanlagen eine viel größere Rolle. Der Umsetzungsgrad in Unternehmen ist noch sehr unterschiedlich, aber da ist eine konkrete Veränderung zu erwarten. Beispielsweise beim Thema Instandhaltung. Dieses Feld basierte früher stark auf Erfahrungswissen. Menschen, die in dem Bereich beschäftigt sind, kennen die Maschinen und Anlagentechnik sehr gut. Die Instandhaltung war stets wenig standardisiert, das heißt, man konnte nicht planen, wann der nächste Austausch von Teilen erfolgen musste. Mit Predictive Maintenance könnte sich das ändern. Da findet eine Wartung, ein Austausch von Verschleißteilen vorausschauend auf Basis von Software und KI-Auswertungen statt. Software meldet den Verschleiß, während die Datenbearbeitung meist andere erledigen. Damit entstehen neue Stellenprofile. Es gibt einen neuen Bedarf an Data-Scientists, die in der Lage sind, mit Daten umzugehen, Programme anzuwenden und Software einzusetzen, die diese Daten ausliest.

Die operativ Beschäftigten agieren hier reaktiv. Es ist eine Herausforderung, Produktionsarbeiter stärker für datenorientierte Jobs und damit für Informatik zu qualifizieren. Oft werden das aber nicht die gleichen Menschen sein.

„Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass so eine Technik wie künstliche Intelligenz einen ganz eindeutigen Effekt auf die Arbeit hat. Es kommt darauf an, wie wir die Technik sozial gestalten. “

Florian Butollo (Foto: Martina Sander-Bank)
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Florian Butollo

Welche Rolle wird künstliche Intelligenz in der Fertigung spielen?
Sie wird in ganz vielen Feldern zum Einsatz kommen. Das liegt einfach daran, dass die allgemeinen Prozesse der Mustererkennung, um die es beim maschinellen Lernen geht, in ganz vielen Bereichen relevant sind. Die Technologie zeichnet sich durch eine sehr starke Verschränkung mit den Anwendungsfeldern aus. KI gibt es nicht von der Stange. Das heißt, sie muss jeweils für den Einsatz angepasst werden. Das ist zum Teil aufwendig, aber es verspricht auch große Potenziale.

Wie wird KI die Arbeitswelt in den Fabrikhallen verändern?
Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass so eine Technik wie künstliche Intelligenz einen ganz eindeutigen Effekt auf die Arbeit hat. Es kommt darauf an, wie wir die Technik sozial gestalten. Das kann man sich an Assistenzsystemen in der Produktion vergegenwärtigen, wie beispielsweise Tablets, Handscannern, Datenbrillen und anderen Geräten. Sie sollen helfen, bestimmte Arbeitsschritte auszuführen. Das kann Lerneffekte für die Mitarbeiter mit sich bringen. Es kann quasi interaktives Lernen stattfinden. Es kann aber auch eine stärkere Fremdsteuerung und Leistungskontrolle mit sich bringen.

Ein gutes Beispiel dafür ist gerade jetzt die Arbeit in Logistiklagern, wo Mitarbeiter Waren zusammenstellen und verschicken. Das sind systemrelevante Jobs in Zeiten von Corona. Aus der Forschung wissen wir, dass es eine starke Fremdsteuerung der Arbeit durch den Einsatz von Assistenzsystemen gibt, die den Mitarbeitern jeden kleinen Arbeitsschritt vorgeben. Das ist ein Pionierbereich bei den E-Commerce-Riesen wie Amazon. Durch die digitale Technik entstehen viele Daten, die unmittelbar auch zur Leistungskontrolle und zu Ratings der Mitarbeiter – fünf Sternchen oder nicht – genutzt werden können. 

„Unternehmen kommen gerade ökonomisch unter Druck und das bedeutet, sie sparen ganz oft genau an Innovationsprojekten. “

Florian Butollo (Foto: Martina Sander-Bank)
Florian Butollo (Foto: Martina Sander-Bank)
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Florian Butollo

Der Teufel steckt also im Detail?
Ja, beispielsweise bei der Frage, wie die Benutzerführung solcher Systeme aussieht oder inwieweit es Mitarbeitern ermöglicht wird, Informationen souverän zu beurteilen. Das sind ganz unmittelbare Fragen, die über Arbeitsqualität entscheiden. Ich wünsche mir mehr Aufmerksamkeit für die Frage, welche Rolle Technologieentwicklung für die Gestaltung der Arbeitswelt spielt. Die Rolle der betrieblichen Mitbestimmung muss hier gestärkt werden. Da geht es um technische Fragen wie die Anschaffung von Software, aber auch um die Entlastung von Beschäftigten. In den vergangenen 30 bis 40 Jahren wurden viele digitale Technologien in der Arbeitswelt etabliert: Roboter, Computer, das Internet. Das hat aber nicht zu einer Entlastung der Beschäftigten geführt, sondern ging mit einer Verdichtung von Arbeit einher. Als Folge davon haben wir ein massives Problem mit Stress und Burn-outs. 

Wie wird sich die Digitalisierung auf die Produktion made in Germany auswirken? Werden Unternehmen wieder stärker in Deutschland fertigen?
Gerade mit dem Coronaschock wird sich in globalen Lieferketten so einiges ändern. Aber so einfach ist das nicht! Es gibt im Rahmen der Industrie-4.0-Diskussion das große Versprechen, dass Unternehmen sich jetzt wieder stärker in Deutschland ansiedeln, weil die schnelle Interaktion mit den Kunden immer wichtiger wird.  

Der Sportartikelhersteller Adidas hat mit dieser Logik die Speedfactory in Ansbach aufgebaut und zum ersten Mal wieder Konsumprodukte im Schuhbereich in Deutschland gefertigt. Man bestellt sich einen Schuh und sieben Tage später ist der da. Das ist niemals möglich, wenn man über Lieferketten in Asien geht. Der technologische Ansatz war 3-D-Druck und eine nahezu vollautomatisierte Fertigung. Dann stellte sich aber heraus, dass so ein Schuh 300 Euro kostet. Das Projekt wurde eingestellt, weil es ökonomisch nicht rentabel war.

Auf der anderen Seite steht der E-Commerce. Das, was Amazon verkörpert. Man kann jedes erdenkliche Produkt der Welt bestellen. Ganz viel davon wird nicht hier produziert und ist trotzdem am nächsten Tag oder sogar am gleichen Tag vor der eigenen Haustür. Wie funktioniert das? Über KI. Indem das Unternehmen eigentlich schon vorher weiß, was mit großer Wahrscheinlichkeit bestellt werden wird. Und schon im Vorhinein die Lager mit Produkten bestückt, die dann schnell lieferbar sind. E-Commerce ist eine Brücke zwischen globalisierter Fertigung und schneller Reaktionsfähigkeit auf die Märkte. Wenn sich Fertigung dennoch stärker regional ansiedelt, dann liegt das meines Erachtens eher an den steigenden Löhnen in Asien. Das ist das stärkere Motiv, nicht die Technik.

Die Corona-Pandemie legt gerade viele Unternehmen lahm oder führt zumindest vorübergehend zur kreativen Neuausrichtung. Siehe VW, Trigema, Siemens. Werden wir jetzt einen Digitalisierungsschub in der Produktion erleben?
Der Schub findet gerade beim virtuellen Zusammenarbeiten vom Homeoffice aus statt. Und alle, ich inklusive, sind überrascht, wie gut das eigentlich funktioniert – sieht man mal von überlasteten Servern und ungelösten Datenschutzfragen ab. Stichwort Zoom und die Debatten darüber, dass hier Daten an Facebook weitergeleitet wurden. Was Automatisierung und Digitalisierung in Produktionsbetrieben angeht, ist die Coronakrise eigentlich eine riesige Bremse. Unternehmen kommen gerade ökonomisch unter Druck und das bedeutet, sie sparen ganz oft genau an Innovationsprojekten. Ich habe mit größeren Unternehmen gesprochen, die gesagt haben: „Die sind bei uns jetzt erst mal vom Tisch.“ Jetzt geht´s ums nackte Überleben.

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Illustration: Stifterverband/ Syniawa
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Mit den großen Transformationsprozessen in Bildung, Wissenschaft und Innovation befasst sich der Stifterverband seit vielen Jahren. Angesichts der aktuellen Pandemie erscheinen fundamentale Veränderungen noch dringlicher als jemals zuvor – die Digitalisierung aller Lebensbereiche, die Kollaboration in offenen Innovationsprozessen und ein neues Miteinander von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, weil die großen Herausforderungen unserer Zeit nur gemeinsam bewältigt werden können. Daran arbeitet der Stifterverband jetzt intensiver denn je, mit Beratungsangeboten und Initiativen.

Mehr Infos

Was wird sich mit der Coronakrise aus der Perspektive eines Industriesoziologen verändern?
Ich hoffe, dass der Schock eine politische Debatte auslösen wird. Ich wünsche mir, dass diskutiert wird, wie Wirtschaftspolitik ausgerichtet werden muss, um die verschiedenen Engpässe und Problemlagen, die man in der Coronakrise beobachten kann, besser in den Griff zu kriegen. Wichtig sind da reduzierte Abhängigkeiten von globalen Lieferketten, ohne dabei in feindlichen Protektionismus zurückzufallen. Ich glaube, dass wir tatsächlich regional integrierte Produktionsnetzwerke brauchen, allein aus ökologischen Gründen. Denn auch in der Coronakrise sollten wir die Zivilisationskrise des Klimawandels nicht vergessen. Wir brauchen riesige Investitionsprogramme, die ökologische und gemeinwohlorientierte Zielsetzungen unterstützen und fragen, wie Technologie bei den Lösungen helfen kann. Wir brauchen jetzt weltweit einen Wettlauf für die gute Sache statt Wachstum um des Wachstums willen.

KI-CAMPUS - Die Lernplattform für künstliche Intelligenz

Um in Deutschland einen mündigen Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI) zu stärken, baut der Stifterverband im Verbund mit renommierten Partnern die digitale Lernplattform KI-Campus auf. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Pilotprojekt hat das Ziel, Studierenden und lebenslang Lernenden KI-Kompetenzen zu vermitteln. Der Stifterverband leitet und koordiniert das Verbundvorhaben über ein KI-Campus-Büro in Berlin und arbeitet unter anderem mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) und dem Hasso-Plattner-Institut (HPI) zusammen. 

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