Kindheit und Lernen 2.0. Folgt nach dem Pisa-Schock durch neue digitale Medien- und Lernwelten nun die digitale Demenz, wie es Gehirnforscher Manfred Spitzer prognostizierte?
Spitzers Aussage passt hervorragend als Schlagzeile in die Bildzeitung und wir leben in einem Zeitalter, in dem populärwissenschaftliche Aussagen viel Nachklang erzeugen. Die Medienwelt liebt es, wenn Studien auf einige wenige Schlagworte reduziert werden können, wenn deren Fazit also auf dem Silbertablett serviert wird, insbesondere wenn dieses Fazit negativ ausfällt. Da heißt es dann: Medienkonsum führt zu Unkonzentriertheit oder unsere Kinder werden durch die neuen Medien immer gewalttätiger, ängstlicher, einsamer, dicker oder eben dement. Empirische Studien, die ein viel differenzierteres und breiteres Bild der Wirklichkeit offenbaren, sind da im Vergleich zu langweilig und werden per Mausklick schnell in den redaktionellen Mülleimer befördert. Ich will nicht sagen, dass die digitale Welt nur Gutes hervorbringt. Ich möchte aber davor warnen, nur die negativen Auswirkungen derart in den Vordergrund zu stellen.
Sie selbst haben vor einigen Jahren den Begriff Generation Flatrate geprägt – und es bitter bereut.
Schlagworte, die den Kulturpessimismus weiter befeuern, führen sozusagen irgendwann ein Eigenleben, das schnell zu einem immer schieferen Bild der Wirklichkeit führen kann. Ich wollte mit dem Begriff vor einigen Jahren das Lebensgefühl einer Generation beschreiben, die den Flatrate-Gedanken in allen möglichen Lebensbereichen verinnerlicht hat. Dies wurde dann von den Medien als Negativ-Zerrbild verwandt, das Positive fand keinen Platz mehr und wenn ich versuchte, eine differenzierte Perspektive in den Diskurs einzubringen, waren die Rezipienten vielfach enttäuscht, da sie eine Abrechnung mit der Kindheit und Jugend von heute erwartet hatten.
Werden Kinder und Jugendliche noch zu wenig gehört, wenn es um Aussagen über deren Lebens- und Lernwelten geht?
Ich denke, wir sind da schon ein großes Stück vorangekommen. Wissenschaftler befragen die junge Generation durchaus intensiv, aber deren Aussagen fallen im medialen Rauschen nicht weiter auf, weil sie eben oft nicht empörend sind, sondern eher normal, unaufgeregt und realistisch. Kinder können ihre Lebenswelten sehr präzise einschätzen und bewerten – dazu bedarf es keiner Erwachsenenmaßstäbe.
Welche schiefen Bilder gibt es noch von der heutigen Kindheit?
Dass Kinder heute völlig anders aufwachsen als noch vor 20, 30, 40 Jahren. Viele Kinder spielen immer noch gerne draußen, sie suchen sich immer noch Freunde in der Nachbarschaft und bauen Staudämme, sie lesen auch weiter Bücher. Gewiss gibt es hier regionale und milieuspezifische Differenzen. Aber wenn man Kinder befragt, was ihnen am wichtigsten ist, antworten sie mehrheitlich nicht Spielkonsole, Smartphone oder Ballerspiele, sondern Freunde. Und diese Freunde treffen sie oft und gerne offline, auch wenn sie dann in ihrer Peer-Group natürlich auch intensiv über digitale Medien miteinander kommunizieren.
Aktuell wird viel über Helikoptereltern gesprochen, die ihren Nachwuchs nicht mehr aus den Augen lassen und Lehrkräfte drangsalieren.
Auch hier haben wir es eher mit einem Schlagwort zu tun, das enorme Medienpräsenz erreichte. Der Begriff ist relativ jung und es gibt noch keine empirischen Studien dazu. Wenn man Lehrkräfte zu diesem Phänomen befragt, können diese zumeist zwei, drei Elternpaare benennen, die man in diese Gruppe einsortieren könnte. Auf der anderen Seite sind Lehrkräfte aber genauso in der Lage, Eltern zu benennen, die sich überhaupt nicht um ihre Kinder kümmern, sie teils sogar hungrig und ohne Pausenbrot in die Schule gehen lassen. Wenn man diese Extreme außen vor lässt, attestieren Lehrkräfte den meisten Eltern tendenziell eher, dass sie sich mehr für Elternabende oder schulische Initiativen engagieren könnten.
Wie sollte man dem herrschenden Kulturpessimismus begegnen, dass es die nächste Generation noch schwerer hat, unterm Strich noch weniger lernt?
Ich denke, mit Gelassenheit und dem Wissen, dass es diesen kulturpessimistischen Blick auf die nachfolgende Generation schon seit Jahrhunderten gibt, die Realität aber anders aussieht.