Lehrermangel

Ideen eine Chance geben

Illustration Glühbirnen zum Leuchten bringen (Illu: Jens Bonnke)
Illustration Glühbirnen zum Leuchten bringen (Illu: Jens Bonnke)
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Frau Reiss, Sie bilden seit vielen Jahren angehende Lehrkräfte aus. Wie hat die Corona-Krise Ihre Aufgabe verändert?
Wir haben im vergangenen Jahr die Chance bekommen, uns viel stärker in Lehr- und Unterrichtsformen einzudenken, die im 21. Jahrhundert notwendig sind. Und dann gibt es noch einen anderen Aspekt: Am Anfang der Pandemie sagte mir ein Journalist während eines Interviews, dass er in der Schule besser hätte aufpassen sollen, als die Exponentialfunktionen dran waren. Da geht mir als Mathematikerin natürlich das Herz auf.

Ein eindrucksvolles Beispiel.
Und hinter ihm steckt eine tiefere Erkenntnis. Lange war der Mathematikunterricht dadurch geprägt, dass gerechnet wurde – die Grundrechenarten, Prozentrechnen und so weiter. Heute haben wir es aber mit komplexeren Themen zu tun: Wir müssen lernen, wie man mit Unsicherheit umgeht, mit Vermutungen, mit Statistiken. Überall steckt Mathematik dahinter, aber eben nicht mehr ausschließlich eine deduktive Mathematik. Wir brauchen auch induktive Ansätze im Umgang mit der Pandemie, wenn es um den Klimawandel geht, um Ressourcen und viele andere hochaktuelle gesellschaftliche Fragen. Da kommt man um Mathematik nicht herum, und das ist vielen jetzt bewusster geworden.

Auch die Technik ändert sich beständig, und bis Ihre Studierenden von heute vor einer eigenen Klasse stehen werden, wird es wieder völlig neue Geräte und neue Software geben. Gibt es eine Chance, dass die Schulen von Getriebenen zu Treibern werden?
Fest steht eins: Es wird nicht funktionieren, dass wir einen jungen Menschen mit 25 oder 30 Jahren in den Beruf gehen lassen und mit 65 Jahren kommt er unverändert wieder heraus. Das kann nicht funktionieren. Eine Person kann nicht gewissermaßen auf Vorrat lernen, was sie in den nächsten 30 Jahren ihres Berufslebens brauchen wird. Dazu ist unsere Welt viel zu komplex geworden und die Anforderungen sind viel zu hoch. 

Kristina Reiss (Foto: Astrid Eckert/TUM)
Kristina Reiss (Foto: Astrid Eckert/TUM)
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Zur Person

Kristina Reiss ist Professorin für Didaktik der Mathematik. An der Technischen Universität München leitete sie bis zu ihrer Emeritierung im März 2021 die TUM School of Education, die als eine der besten Ausbildungsstätten für Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland gilt. Reiss ist Vorsitzende des Zentrums für internationale Bildungsvergleichsstudien, das in Deutschland die Pisa-Tests durchführt. Bei der Jubiläumsinitiative Wirkung hoch 100 des Stifterverbandes ist sie als Beiratsmitglied engagiert.

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Das klingt schlüssig. Aber was heißt das für die Lehrerbildung?
Ich bin davon überzeugt, dass wir mehr Fortbildungen für Lehrkräfte brauchen. Das bisherige Angebot halte ich für zu beliebig; es muss stärker an großen Themen wie etwa der Digitalisierung ausgerichtet werden, wie wir jetzt in der Corona-Krise am Beispiel des Distanzunterrichts gemerkt haben.

Lehrkräfte wurden früher oft als Einzelkämpfer gesehen. Gilt das noch?
Ich erzähle seit Jahren, dass wir in der Lehrerbildung stärker das Thema Synergien angehen müssen. Teams und Netzwerke spielen eine ganz wichtige Rolle, und zum Glück wird das immer stärker wahrgenommen. 

Auch bei Wirkung hoch 100 steht der Netzwerk-Gedanke im Vordergrund …
… und genau das gefällt mir daran so gut: dass nicht nur Forscherinnen und Forscher oder Hochschulen mitmachen können, sondern alle, die etwas beitragen möchten. Dass man ganz offen an innovative Ideen herangeht und keine Visionen ausschließt. Das ist ein Aspekt, der mich auch an der Forschung immer schon fasziniert hat: wenn aus Ideen, die im Team diskutiert worden sind, schließlich Projekte hervorgehen

Sie waren ja bei der Auswahl der 100 Ideen dabei, mit denen Wirkung hoch 100 gestartet ist. Was ist Ihnen aufgefallen?
Mir gefällt, dass sich die 100 Projekte erst einmal entwickeln können. Unterstützt wird Kreativität: Mit ihr geht es los, daraufhin entsteht in einem gemeinsamen Prozess ein Produkt, das sich dann wiederum am Markt behaupten muss. Und eins hat mich bei der Auswahl besonders beeindruckt …

… nämlich?
Dass ich schon beim Lesen der Anträge über manche witzige, zündende Ideen gestolpert bin. Dazu passte auch die Aufgabe, die uns für die Auswahl mitgegeben wurde: Wenn Ihnen beim Lesen langweilig wird, legen Sie das Projekt gleich zur Seite.

„Fest steht: Es wird nicht funktionieren, dass wir einen jungen Menschen mit 25 oder 30 Jahren in den Beruf gehen lassen und mit 65 Jahren kommt er unverändert wieder heraus. Eine Person kann nicht gewissermaßen auf Vorrat lernen, was sie in den nächsten 30 Jahren ihres Berufslebens brauchen wird.“

Kristina Reiss (Foto: Astrid Eckert/TUM)
Kristina Reiss (Foto: Astrid Eckert/TUM)
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Kristina Reiss
Matheprofessorin und Beiratsmitglied von Wirkung hoch 100

Das klingt erst mal schlüssig.
Aber es ist völlig unüblich! Ich schreibe oft seitenlange Gutachten für Projekte, die mir überhaupt nicht gefallen, und muss dann Worte finden, um meine Ablehnung zu formulieren. Bei Wirkung hoch 100 ist dieser Prozess ganz anders. Man kann mehr Ideen erst einmal eine Chance geben.

Sie sitzen in zahlreichen Auswahlkommissionen. Glauben Sie, dass ein solcher Ansatz Schule machen kann?
Wir sind im wissenschaftlichen Bereich sehr stark darauf geschult, den Daumen zu heben oder zu senken. Vermutlich täte es gut, etwas mehr Verständnis für die Zwischenbereiche zu entwickeln. Uns in Deutschland wird ja oft nachgesagt, dass wir nicht sonderlich risikofreudig seien. Ich bin mir sicher: An Wirkung hoch 100 können wir lernen, auch einmal stärker ins Risiko zu gehen.

DIE JUBILÄUMSINITIATIVE „WIRKUNG HOCH 100“

Im 100. Jahr seines Bestehens sucht der Stifterverband Deutschlands beste 100 Ideen und Projekte für das Bildungs-, Wissenschafts- und Innovationssystem von morgen. Gemeinsam mit dem großen Partnernetzwerk des Stifterverbandes, bestehend aus Stiftungen, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, vernetzt „Wirkung hoch 100“ Weiterdenker und Pioniere und verhilft ihren Projekten zum Durchbruch. In einem mehrstufigen Verfahren werden aus den 100 Projektem Ende 2021 drei ausgewählt.

Mehr Artikel zu „Wirkung hoch 100“ auf MERTON.

Das Interview erschien zuerst im Jahresbericht 2020/21 des Stifterverbandes.

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