Die Schüler von der Quinoa-Schule wollen immer diskutieren und sich nicht prügeln – das ist schon aufgefallen unter Jugendlichen im Wedding. Diese Mädels und Jungs ticken anders, wie Emine. Die 15-Jährige will Sozialarbeiterin werden, und das ist nicht bloß Wunschdenken, sondern ein Ziel von ihr. Derzeit verlässt jeder dritte Jugendliche in Berlin-Wedding die Schule ohne einen Abschluss.
Lehrermangel
Diese Schulen machen Mut

Veraltete Lehrmethoden und Lernmittel, desillusionierte Schüler, ausgepowerte Lehrer und schwierige Schulkarrieren sind an deutschen Schulen Realität. Es gibt aber auch die Gegenteile, wie die Beispiele Quinoa- und Oberlinschule eindrücklich zeigen. Beide Schulen sind auf bestimmte Schülergruppen spezialisiert, unterrichten sozusagen eine ausgewählte Schnittmenge unserer Gesellschaft, könnten dabei aber in Schulkonzept, Förderhilfen, Lehr- und Lernangeboten kaum vielfältiger vorgehen. Das ist bemerkenswert und auf dem zweiten Blick fast schon wieder logisch, da beide Schulen weit entfernt vom Klischee des Normschülers agieren.
Die Quinoa-Schule und die Oberlinschule haben dem Lehren und Lernen nicht nur hier und da etwas Diversität und Individualität eingehaucht. Das ganze Tun dieser Schulen – ihre Förderpläne, Handlungsweisen, Zukunftsvisionen und ihr Schulalltag – ist von der Idee durchdrungen, die Persönlichkeiten, Lebenshintergründe, speziellen Talente und vor allem den besonderen Förderbedarf ihrer Schülerschaft aufzustöbern, hervorzuheben und das Beste daraus zu machen. Für den Lernerfolg, aber auch fürs Leben: Eigenständigkeit, beruflicher Erfolg, persönliches Glück.
Viele der Jugendlichen sind desillusioniert und frustriert von ihrer bisherigen Schulkarriere, wenn sie an die Quinoa-Schule kommen. Um überhaupt zu ihnen durchzudringen, stecken Lehrerteam und fünf Fellows der gemeinnützigen Bildungsinitiative Teach First Deutschland viel Kraft in ein wöchentliches Tutorenprogramm. Dabei hat jeder Schüler von der siebten bis zur zehnten Klasse eine Lehrkraft als persönlichen Tutor. Das Tandem trifft sich wöchentlich für eine halbe Stunde, um über Lebenshintergründe, aktuelle Lernbarrieren und Lernziele zu sprechen. „Wir glauben, dass man eine feste und intensive Bindung zu den Schülern braucht, damit sie verstehen, dass wir an ihrer Seite stehen“, sagt Pavlakidis. Mit diesem Vertrauen, das dann auch das Stigma „Du kannst nichts“ durchbrechen könne, sei das Lernen im Klassenraum einfacher.
„Wir glauben, dass man eine feste und intensive Bindung zu den Schülern braucht, damit sie verstehen, dass wir an ihrer Seite stehen.“

Runterkommen im Rückzugsraum, Physiotherapie oder Sprachtherapie während des Schultags, individuelles Lernen im Nebenraum, als Siebtklässler mit der Mappe unterm Arm in den Biologieunterricht der Neuntklässler wechseln, individuelles Pendeln zwischen Theorieunterricht und praktischem Lernumfeld – all das geht an der Oberlinschule. Reguläre Schulen stoßen hier schnell an ihre Grenzen.
Seit der Wende hat sich die Schülerzahl an der Oberlinschule vervierfacht und auch die Diagnosen der dort aufgenommenen Kinder und Jugendlichen sind komplexer geworden. Über die Jahrzehnte bekamen Schul- und Lernkonzept mit jedem neuen Schüler und dessen spezieller Diagnose wieder ein Mosaiksteinchen mehr, über das nachgedacht wurde, das man versuchte, ins Förder- und Lernkonzept einzugliedern. Gerade die Erkenntnis, dass körperliche Beeinträchtigungen oft auch einen emotional-sozialen Förderbedarf mit sich bringen und nicht bloß technische Hilfsmittel erfordern, sei ein wichtiger Antrieb gewesen, Lehr- und Lernalltag noch weitaus diverser und individueller zu gestalten, so Uwe Plenzke.
Schubladen würden möglichst vermieden, erklärt der Schulleiter weiter. „Da ist ein Kind, wenig oder nicht sprechend, und den Ärzten, Fachleuten, Eltern ist trotz aller Diagnosemöglichkeiten noch unklar, welche Besonderheiten und Beeinträchtigungen das Kind genau hat.“ Für die Oberlinschule sei dies keine Hürde, da man dieses Kind in eventuell passende Förder- und Lerndynamiken integrieren könne, wo sich dann mit förderdiagnostischer Lernbeobachtung zeige, welcher besondere Unterstützungsbedarf tatsächlich bestehe.
„Wir versuchen Schubladendenken zu vermeiden. “

Im Wedding an der Quinoa-Schule ist vieles noch im Aufbau, wie beispielsweise ein vierjähriges Mentorenprogramm für die Schulabgänger der Quinoa oder das Fach „Freies Üben“, in dem Schüler und Lehrkräfte 90 Minuten pro Woche mit Lerntypentests experimentieren. Das, was es schon länger gibt, wird labormäßig weiterentwickelt, wie die Unterrichtsfächer „Zukunft“, eine Art Berufsorientierung plus, und „Interkulturelles Lernen“, ein Fach, das die Identität der Schüler stärken und ihre besonderen Potenziale freilegen soll. Auch an einem Verhaltensmanagement mit Lobpunkten wurde an der Quinoa bereits viel gefeilt, das den Jugendlichen die drei Werte Mut, Verbindlichkeit und Achtsamkeit näherbringen und dafür sorgen soll, dass so wenig Unterrichtszeit wie möglich durch einen hohen Geräuschpegel und störende Schüler verschwendet wird.
Explizit gute Erfahrungen machten beide Schulen mit wohlüberlegten und aufgeschriebenen individuellen Förderzielen für jeden Schüler. An der Quinoa erarbeitet diese Ziele das jeweilige Tutoren-Tandem aus Lehrkraft und Schüler. In der Oberlinschule ist der Vorgang weitaus komplexer, weil in die Förderziele auch Rückmeldungen von Fachlehrern, der Ärztin, der Psychologin, den Therapeuten und den Eltern einfließen müssen über jüngste körperliche Veränderungen, Verhaltensänderungen, Entwicklungserfolge oder auch Rückschläge.
Was ließe sich von all dem auf andere Schulen übertragen? In jedem Fall die Idee, dass Lernen auch gelebt werden muss, also viel mehr Lebenspraxis braucht, sagt Uwe Plenzke. Der Schulleiter empfiehlt, viel entspannter, flexibler und ideenreicher mit den Vorgaben und Rahmenlehrplänen umzugehen, als es gemeinhin üblich ist.
Pantelis Pavlakidis glaubt, dass andere Schulen einzelne Bestandteile des Quinoa-Konzepts zwar gut übertragen könnten, wie zum Beispiel die Art und Weise, wie der Stundenplan organisiert werde, oder die neuen Unterrichtsfächer. Das Quinoa-Konzept als Ganzes einfach so auf ein anderes Problemviertel zu übertragen, sieht Pavlakidis aber eher kritisch, weil es doch sehr auf den Wedding ausgerichtet sei. Zukunftsmusik sehe die Quinoa-Schule vor allem im Aufbau einer lokalen Bildungskette mit den vielen bereits engagierten Institutionen im Kiez, so Pavlakidis. Die müsse bereits vor dem Kindergarten ansetzen, damit man das Feuer nicht erst ab der siebten Klasse löscht.
Deutsches Lehrer-Forum 2016: Vielfalt an der Schule
Vielfalt in der Schule ist heute in ganz Deutschland Realität. Besonders in den Großstädten steigt die Zahl von Kindern aus zugewanderten Familien, auf dem Land sinken die Schülerzahlen, an immer mehr Regelschulen lernen Kinder mit erhöhtem Förderbedarf und die soziale und familiäre Situation vieler Schülerinnen und Schüler ist regional sehr heterogen. Lehrkräfte suchen tagtäglich Lösungen für soziale, kulturelle, sprachliche und ganz praktische Herausforderungen an ihrer Schule. Das Thema stand deshalb im Mittelpunkt beim zweiten Deutschen Lehrerforum im September 2016, bei dem auch Vertreter der Quinoa- und der Oberlinschule zu Gast waren.
Weitere Informationen und ein Rückblick auf die Veranstaltung unter: www.deutsches-lehrerforum.de
