Deutschland kann seine Wachstumsschwäche durch die Förderung der Gesundheitswirtschaft überwinden. Das Forschungspotenzial dafür ist vorhanden. Ein Aktionsplan von Michael Kaschke und Otmar D. Wiestler.
Der Wirtschaftsstandort Deutschland stützt sich seit langer Zeit auf ingenieurstechnische und forschungsintensive Branchen wie die Automobilindustrie, die Chemieindustrie, die Energiewirtschaft oder den Maschinenbau. Das geschieht sowohl in den großen international aufgestellten Unternehmen als auch im hochinnovativen Mittelstand. Doch aufholende internationale Konkurrenz und die sinkende Innovationskraft in Deutschland setzen diesen Schlüsselbranchen erheblich zu. Hinzu kommen ein deutlicher Rückstand in dynamischen Bereichen wie KI-Technologien, bürokratische Hürden und der Fachkräftemangel.
Die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit tragen zur Komplikation bei, bieten gleichzeitig aber auch enorme Chancen, wenn wir es schaffen, grundlegende Weichen für die Zukunft richtig und konsequent zu stellen. Fallen die dazu notwendigen Entscheidungen hingegen nicht mutig genug aus, dann droht Deutschland durch den Innovationsverlust in zentralen Wirtschaftsbereichen zurückzufallen. Ohne eine innovative und dynamische Wirtschaft aber sind Wachstum und Prosperität in Deutschland nicht zu sichern. Deshalb sehen wir es als ein Gebot der Stunde, Forschung, Entwicklung und ein starkes Innovationssystem signifikant zu stärken.
Wenn wir visionär denken und heute die Fundamente für Zukunftsmärkte legen, die in ein oder zwei Dekaden ebenso für Deutschland stehen wie über lange Jahre die Automobilindustrie oder der Maschinenbau, dann lohnt sich vor allem ein Blick auf den Gesundheitssektor – ein Bereich, der bereits heute enorm zur Wirtschaftskraft beiträgt und durch beeindruckende Innovationsleistungen sowie globale dynamische Entwicklungen besticht. Der Sektor trägt etwa zwölf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Im Gesundheitswesen arbeiten hierzulande rund sechs Millionen Menschen. Durch den demografischen Wandel und die zunehmende Alterung der Weltbevölkerung steigt der Bedarf an Gesundheits- und Pflegeleistungen auch global zukünftig dramatisch an. Bis 2050 wird fast jeder vierte Mensch auf der Erde über 60 Jahre alt sein. Gleichzeitig wächst durch den wirtschaftlichen Aufschwung insbesondere in den asiatischen Ländern die Mittelschicht mit entsprechenden Möglichkeiten der medizinischen Versorgung. In den kommenden Jahren könnte daher der Gesundheitssektor auch als wichtiger Exportmarkt noch deutlich mehr an Bedeutung gewinnen.
Mit zahlreichen innovativen Medizintechnikunternehmen, Unternehmen aus der Pharma- und Biotechbranche, vielen Weltmarktführern und hidden champions ist die Gesundheitswirtschaft in Deutschland heute gut positioniert und genießt mit ihren Produkten und Dienstleistungen hohes Ansehen in der Welt. Die Erfolge von Unternehmen wie BioNTech in Mainz, Siemens Healthineers in Erlangen oder Storz in Tuttlingen zeigen eindrucksvoll, welch enormes Potenzial in diesem Bereich steckt. Wir verzeichnen auch eine zunehmende Zahl von Unternehmensgründungen mit medizinischem Schwerpunkt – insbesondere im Bereich digitaler Technologien. Hinzu kommen weltweit renommierte Einrichtungen der Gesundheitsforschung im akademischen Sektor sowie in der Wirtschaft.
Trotz dieses Potenzials steht der Gesundheitssektor im Vergleich zu anderen Sparten für die Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik nicht im Fokus und wird hier als Zukunftsbranche unterbewertet. Öffentliche Diskussionen konzentrieren sich häufig allein auf steigende Gesundheitskosten oder die Angst vor unzureichender medizinischer Versorgung. Die enormen und langfristigen Wachstumschancen hingegen, welche nicht zuletzt auf den Fortschritten in der biomedizinischen Forschung, der Ingenieurstechnologien oder auf digitalen Lösungen und Künstlicher Intelligenz basieren, werden nur unzureichend gesehen. Um dieses Potenzial als Motor für eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung des Landes voll zu heben, muss die Gesundheitsbranche in den Zukunftsplanungen und künftigen Koalitionsverträgen eine wesentlich höhere Priorität erhalten. Dafür schlagen wir einen Aktionsplan mit folgenden Maßnahmen vor:
Um die zuvor genannten Punkte auszuarbeiten und erfolgreich umzusetzen, ist eine nationale Initiative zur Stärkung des Gesundheitssektors notwendig. Eine solche Initiative darf nicht an ministeriellen Ressortzuschnitten scheitern. Daher ist eine enge Zusammenarbeit aller relevanten Akteure erforderlich und sollte von einem hochkarätig besetzten nationalem Gremium koordiniert werden. Auch die Einbeziehung internationaler Experten aufgrund der globalen Bedeutung der Branche ist wichtig. Die weltweiten Wettbewerber werden nicht auf uns warten und die Strukturkrise in anderen Bereichen der deutschen Wirtschaft zeigt, dass wir keine Zeit verlieren dürfen. Die Ideen liegen auf dem Tisch und die Startposition ist gut.
Der Jahrzehnte andauernde Erfolg des Wirtschaftsstandorts Deutschland gründet sich auf Innovation, wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die diese Innovation ermöglichten, und einer weltweit anerkannten Qualität in der Ausbildung von Fachkräften. An diese Stärken müssen wir anknüpfen. Wenn wir heute die richtigen Weichen stellen, können wir das frühere Erfolgsmodell der deutschen Industrie auch in Zukunftsbranchen wie dem Gesundheitssektor wiederholen.
Michael Kaschke
Präsident des Stifterverbandes
ehemaliger Vorsitzender des Vorstands der ZEISS Gruppe
Foto: David Ausserhofer
Otmar D. Wiestler
Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft
Foto: Phil Dera