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„Wir haben uns daran gewöhnt, immer alles unter Kontrolle zu haben“

Foto: istock.com/Thomas Marx
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Professor Grunwald, in Ihrem Buch „Der unterlegene Mensch“ beschreiben Sie die Sorge oder auch Angst vieler Menschen, dass die Geister der Digitalisierung, die wir selbst riefen, das Kommando über unser Leben übernehmen und die Gattung Mensch am Ende überflüssig machen. Vermutlich eine harmlose Sorge – verglichen mit der Angst, die derzeit vor dem Coronavirus und dessen Folgen weltweit umgeht.
Tatsächlich sind die Bedenken gegenüber einer fortschreitenden Digitalisierung und – nicht zu vergessen – auch die Klimakrise in den zurückliegenden Monaten kaum ein Thema in der Öffentlichkeit gewesen. Das Coronavirus ist totalitär und lässt kaum Raum für andere Themen. Ich würde jedoch zunächst einmal zwischen Sorge und Angst unterscheiden wollen.

Inwiefern?
Sorge ist, wenn Sie so wollen, ein Dienst am Gemeinwohl. Sorgen rütteln uns aus Bequemlichkeit und Alltagstrott und zwingen uns, bestimmte Dinge zu überdenken – im Fall der Digitalisierung etwa die Sinnhaftigkeit von Algorithmen, die pauschale Entscheidungen treffen, ohne auf das Individuum einzugehen. Und die auch auf Daten von uns zugreifen, die wir ihnen besser nicht zur Verfügung stellen sollten. Angst hingegen lähmt und behindert die Fähigkeit, vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Und was überwiegt derzeit in der Coronakrise?
Beides hält sich die Waage, würde ich sagen. Besorgt zeigen sich Wissenschaftler und Politiker – und geben Empfehlungen oder handeln. Angst schüren vor allem die Verschwörungstheoretiker. Angst überfiel aber auch sehr viele, als sie die Fernsehbilder aus Norditalien, Spanien und aus New York sahen, wo vergleichsweise viele Infizierte an den Folgen von COVID-19 gestorben sind. Diese Bilder entwickelten eine geradezu ikonografische Wirkung.

Erscheint uns das alles viel schlimmer als die begründeten oder auch diffusen Ängste vor der Herrschaft der Algorithmen?
​Was uns Menschen derzeit vor allem verstört, ist, dass wir es plötzlich wieder mit einer analogen Gefahr zu tun haben, die weltumspannend ist und auf die wir offensichtlich schlecht vorbereitet waren. Während die möglichen Risiken der Digitalisierung ein normalerweise in der Öffentlichkeit viel diskutiertes Thema sind, kennt die Menschheit eine Bedrohung wie Corona seit der Spanischen Grippe vor fast genau 100 Jahren praktisch nicht mehr. Wir haben in den letzten Jahren ein wenig verlernt, dass nicht nur Computerviren gefährlich sein können, sondern dass auch ganz reale Viren existieren, die uns zeigen, dass wir verwundbar und deshalb, gefühlt, unterlegen sind. Außerdem haben wir uns daran gewöhnt, immer alles unter Kontrolle zu haben – ein Trugschluss. Das ist gut an der vielerorts bröckelnden Wirtschaft zu beobachten: Geht die in die Knie, zieht das viele – negative – Folgen wie hohe Arbeitslosigkeit und soziale Unruhen nach sich. Deshalb auch ist der Staat als ordnende Macht gerade ziemlich hoch im Kurs.

Armin Grunwald (Foto: Sandra Göttisheim)
Armin Grunwald (Foto: Sandra Göttisheim)
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Zur Person

Armin Grunwald ist Professor für Technikphilosophie und leitet seit mehr als 20 Jahren die weltweit größte Einrichtung für Technikfolgenabschätzung, das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), sowie das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). Er hat bereits mehrere Bücher zum Thema Technikfolgen und Nachhaltigkeit geschrieben, zuletzt erschien 2018 „Der unterlegene Mensch: Die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern“.

„Wir haben in den letzten Jahren ein wenig verlernt, dass nicht nur Computerviren gefährlich sein können. “

Armin Grunwald (Foto: Sandra Göttisheim)
Armin Grunwald (Foto: Sandra Göttisheim)
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Armin Grunwald

Werfen vielleicht deshalb in der Krise auch viele Skeptiker ihre Vorbehalte gegenüber einer digitalen Überwachung über Bord?
Vor dem Hintergrund von Homeoffice, Homeschooling und Kontaktsperren ist es für die Arbeitswelt, aber auch für unser Sozialleben großartig, dass wir eine fortgeschrittene Digitalisierung nutzen können. Ein Arbeitsleben ohne Konferenztools und schnelle Zugriffe auf Webportale und Content-Management-Systeme? Das mag man sich gar nicht vorstellen. Aber das ist natürlich nur die eine Seite der Medaille …

Die andere heißt „Corona-App“, mit deren Hilfe – so die Sorge – die Bürgerinnen und Bürger in „infiziert“ und „nicht infiziert“ unterteilt und quasi überwacht werden können …
Ich halte diese Sorge für berechtigt. Algorithmen beruhen auf der Auswertung von statistischen Daten und berücksichtigen nicht das Individuum. Um das sollte es aber immer auch gehen. Deshalb ist vor diesem Hintergrund das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die massenhafte Vorratsdatenspeicherung durch den Bundesnachrichtendienst zu begrüßen. Grundsätzlich ist aber die Idee, mithilfe eines digitalen Tools die Zahl der Neuinfektionen bekämpfen zu wollen, gut. Nur müssen die Verwendung und die Wirkung der App in regelmäßigen Abständen durch ein Gremium streng überprüft werden, um sicherzustellen, dass die App nur für diesen einen Zweck genutzt wird.

Eine Überwachung der Überwacher?
Ja, und dieses Gremium sollte mit Leuten besetzt sein, die keinerlei fachliches Interesse an dem Überwachungsvorgang haben, sondern die Transparenz und demokratische Freiheitsrechte im Sinn haben. Ich bin zuversichtlich, dass sich das machen lässt.

 

Foto: Screenshot
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Allgemein entstand in den zurückliegenden Monaten der Krise der Eindruck: Geht doch – Deutschland steht in Sachen Digitalisierung gar nicht so schlecht da. Vieles scheint plötzlich vorangetrieben zu werden …
Deutschland steht tatsächlich nicht so schlecht da. Aber es offenbaren sich jetzt neben den Vorteilen der Digitalisierung auch deren Grenzen, was man zum Beispiel im Wissenschaftsbereich gut sehen kann: Konferenztools sind toll, wenn man eine klare Tagesordnung hat, die man mit fünf, sechs oder auch mehr Leuten abarbeiten muss. Aber sobald es um einen wissenschaftlich-kreativen Gedankenaustausch – um Brainstorming und inhaltliche Diskussionen – geht, sind Zoom, Skype und Co. eher unbrauchbar und sogar antikreativ. Denn der spontane Dialog funktioniert damit nicht gut – und wenn man es trotzdem versucht, wird es technisch anstrengend.

Sie selbst wirken beim Thema Corona recht gelassen. Sind Sie es? 
Verängstigt bin ich jedenfalls nicht. Das Virus agiert mit einer gewissen Logik: Würde es uns alle töten, wäre es selbst binnen Kurzem tot. So war es auch bei der Pest oder Lepra. Deshalb – um zu Ihrer Eingangsfrage zurückzukommen – ist Sorge gut, aber Angst nicht. Es geht darum, wie wir künftig die Koexistenz mit dem Virus gut hinbekommen können. Deshalb halte ich alle Kriegs- und Kampfrhetorik im Zusammenhang mit Corona auch für äußerst übertrieben. Vor allem aber: Nicht mehr in allem überlegen zu sein, heißt nicht automatisch, komplett unterlegen zu sein.

Bildung, Wissenschaft und Innovation in Zeiten von Corona

Mit den großen Transformationsprozessen in Bildung, Wissenschaft und Innovation befasst sich der Stifterverband seit vielen Jahren. Angesichts der aktuellen Coronavirus-Pandemie erscheinen fundamentale Veränderungen noch dringlicher als jemals zuvor – die Digitalisierung aller Lebensbereiche, die Kollaboration in offenen Innovationsprozessen und ein neues Miteinander von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, weil die großen Herausforderungen unserer Zeit nur gemeinsam bewältigt werden können. Daran arbeitet der Stifterverband jetzt intensiver denn je, mit Beratungsangeboten und Initiativen.

Mehr Info auf der Website des Stifterverbandes 

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