Was müssen wir noch ablegen, damit dies gelingt?
Wir müssen lernen, paradoxe Situationen besser auszuhalten. Bislang haben wir immer versucht, Widersprüchlichkeiten aufzulösen und die Gegenteile zu harmonisieren. Dieses Modell hat über Jahrhunderte gut funktioniert, aber diese Zeit ist vorbei. Nehmen wir ein Beispiel: Der Satz „Alt werden, aber nicht alt sein“ hat eine ganz lange Tradition. Er gilt als paradox. Das ist er aber nicht mehr. Heute müssen wir beides lernen, üben und umsetzen. Alt werden ist eine Kunst und alt sein noch mehr. Da heutzutage ganz viele unterschiedliche Wahrheiten existieren – die je nach Perspektive auch einleuchtend erscheinen –, sind wir gezwungen, Paradoxien zu ertragen und anzunehmen.
Was wäre hierfür ein weiteres Beispiel?
In vielen Berufen oder Entscheidungsfunktionen ist es unmöglich geworden, die vorhandene und täglich wachsende Fachliteratur zu lesen. Niemand schafft es heute mehr zu lesen, was er eigentlich glaubt, lesen zu müssen: für den Job, die persönliche Entwicklung, Zukunftsentscheidungen oder über Gesundheit und Ernährung. Gleichzeitig gab es nie mehr Wissen und war es nie leichter, genau an diese Informationen heranzukommen, als jemals zuvor. Dieser Widerspruch lässt sich nicht mehr lösen: Wir können unsere Zeit, unsere Lesestrategie nicht mehr weiter optimieren, wir müssen diesen Widerspruch schlichtweg akzeptieren, aushalten und neue Wege suchen. Da erscheint die künstliche Intelligenz tatsächlich als evolutionäre Erweiterung und konsequente Selbstverständlichkeit.
Ist das nicht auch ein Grund dafür, dass wir uns immer stärker an die Zukunft ausgeliefert fühlen: Was wir auch tun, wir haben damit keinen Erfolg mehr?
Das ist eine Denksackgasse, aus der wir dringend rausmüssen! Ja, alles wird auf den Kopf gestellt – akzeptieren wir es, auch wenn sich immer mehr nicht mit den alten Mustern erklären, sortieren, analysieren oder lösen lässt. Aber eins sollten wir uns dennoch selbstbewusst vor Augen führen: Die flächendeckende Stärke der algorithmischen Technologie ist vor allem die korrelative Speicherkapazität – ein grandioses Dienstleistungsuniversum. Aber das Unbekannte, das Unbewusste, unsere Zweifel, unsere Träume oder unsere Gedanken werden sich noch lange der externen Fokussierung und Speicherung entziehen. Es bleibt genug Raum für uns, den Unerklärbarkeiten der neuen Welt mit menschlichen Entscheidungen und Einsichten in die Parade zu fahren. Dennoch geht es mit und nicht gegen die Technik.
Heuristiken, Intuition, Probehandeln, eine andere Fehlerkultur – was kann uns noch helfen?
Zur dynamischen Beantwortung dieser Frage arbeitet mein Institut an Studien, Büchern, Doktorarbeiten. Erste konkrete Ergebnisse zu einem Zukunftsbarometer sind schon für das kommende Jahr geplant. Grundsätzlich aber brauchen wir in dieser historischen Situation ganz wesentlich Selbstbewusstsein, Mut und Talent. Diese Tugendausstattung brauchen unsere Kinder und Jugendlichen. Das ist jetzt die ultimative Grundlagenarbeit unserer Gesellschaft. Zukunftsausrichtung und Zukunftsbewältigung beginnen in der Schule, in der Kita – dort muss Bildung neu ausgerichtet und revolutioniert werden. Zukunft beginnt immer im Kopf.