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„Man wird alles vernetzen, was man vernetzen kann“

Fabrik der Zukunft
Foto: iStock/ipopba
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Jan-Peter Meyer-Kahlen grüßt freundlich vom Bildschirm. Die roten Backsteingebäude des Ericsson Eurolab-Forschungszentrums in Herzogenrath bei Aachen zeigen sich im Hintergrund nur auf Fotos. „Ich könnte Ihnen hier normalerweise eine Menge zeigen“, sagt der Eurolab-Leiter. Aber wir sind heute über ein Konferenztool verbunden – Coronazeiten eben. 

Die rund 500 Eurolab-Mitarbeiter des schwedischen Mobilfunkausrüsters Ericsson arbeiten gerade zu 95 Prozent im Homeoffice. Man habe frühzeitig auf Digitalisierung gesetzt, erzählt Meyer-Kahlen stolz. In die großen Testanlagen, die Ericsson in Herzogenrath aufgebaut hat, können sich Mitarbeiter aus der ganzen Welt einloggen. Das hilft gerade jetzt in Pandemiezeiten. „Es klappt“, freut sich der 57-Jährige. „Wir kriegen unsere Geschäfte, unsere Projekte umgesetzt.“ 

Das Eurolab ist eines der größeren unter den mehr als 30 Entwicklungszentren der Schweden. Die Mitarbeiter kommen aus 40 Nationen. „Die Telekombranche war immer sehr international“, erklärt der Ericsson-Manager. Die Unternehmenssprache ist Englisch. „Deshalb haben wir es leicht, auch international zu rekrutieren und Mitarbeiter in die Teams zu integrieren und auch über die Standorte hinweg zu rotieren.“ 

Campus Melaten: Ein besonderes „Ökosystem“

Luftaufnahme des Campus Melaten der RWTH Aachen
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Campus Melaten (Foto: RWTH/ Peter Winandy)
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In Herzogenrath ist man besonders eng mit der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH Aachen) vernetzt. Meyer-Kahlen ist das beste Beispiel. Der Ingenieur hat hier Nachrichtentechnik studiert und kam ins 1990 gegründete Eurolab. Nach 10 Jahren am Standort in Herzogenrath folgten 10 Jahre in Nordamerika und Schweden. Seit 2014 leitet er die Forschungseinrichtung in unmittelbarer Nähe zu den Niederlanden. „Ich bin so ein Ericsson-Gewächs.“ Mit dem Aufbau des Aachener Campus Melaten, dem Herzensprojekt des umtriebigen RWTH-Professors Günther Schuh, sind die Bande zu der technischen Hochschule in den letzten Jahren noch einmal enger geworden. Auf dem Campus forschen RWTH-Institute und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen mit Unternehmen wie Ericsson Seite an Seite. In diesem besonderen „Ökosystem“, wie Meyer-Kahlen es nennt, kooperieren die Herzogenrather Mobilfunkspezialisten beispielsweise mit dem FIR – Forschungsinstitut für Rationalisierung e. V., das auf dem Campus sitzt, und mit Forschern vom E.ON Energy Research Center. „Für uns ist das ein erheblicher Standortvorteil.“ 

Ein enger Industriepartner ist der Aachener E-Fahrzeugbauer e.Go – ein Start-up eben jenes umtriebigen Campus-Initiators und Produktionstechnologen Günther Schuh. „Mit e.Go haben wir schon vor vielen Jahren angefangen nachzudenken, wie 4G und 5G in die Produktion einziehen können“, erzählt Meyer-Kahlen. Zusammen mit dem Mobilfunkprovider Vodafone hat Ericsson in den Produktionshallen für den Aachener Stromer inzwischen eines der ersten Netzwerke für eine industrielle Fertigung in dem neuen Mobilfunkstandard 5G aufgebaut. Hier fließen Datensätze von jedem Werkzeug in die Cloud, die Produktion wird in Echtzeit gemessen, kontrolliert und gesteuert. „So kann man online eins zu eins ein virtuelles Bild der Produktion, einen digitalen Zwilling, herstellen. So etwas geht nur per Funk.“ In der vernetzten Fertigung müssen Hunderte oder Tausende Geräte auf engstem Raum zusammen betrieben werden. Dazu braucht es viel Bandbreite, hohe Übertragungsraten und sehr geringe Latenzen, das heißt Verzögerungen bei der Datenübertragung. „Und genau da kommt jetzt 5G ins Spiel“, so der Forschungsleiter. 

„In den letzten zwölf Monaten hat die Datenkapazität, die wir durch Mobilfunknetze schicken, global um 70 Prozent zugenommen – in einem Jahr.“

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Jan-Peter Meyer-Kahlen (Foto: privat)
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Jan-Peter Meyer-Kahlen

Für die neueste Mobilfunkgeneration sind seit letztem Sommer endlich Frequenzen verfügbar. Die Versteigerung hat der Bundesregierung damals mehr als 6 Milliarden Euro eingebracht. Eine Vorbedingung für die Auktion: Die Wirtschaft sollte eigene Frequenzbereiche erhalten. Nun gibt es sie. „Fabrikbesitzer können jetzt Lizenzen kaufen und damit ihre Geräte und Systeme betreiben“, erklärt es Meyer-Kahlen genauer. Waren die bisherigen Mobilfunkgenerationen – 2G bis 4G – auf die Verbraucher mit ihren Smartphones ausgerichtet, gehe es bei der fünften Mobilfunkgeneration nun darum, die Technologien und Netze für Industrieanwendungen zu optimieren. Die Forschung hierzu steht nun auch im Fokus der Herzogenrather. Denn gemeinsam mit den Mobilfunknetzbetreibern bieten die Netzausrüster wie Ericsson solche Lösungen an.

Zusammen mit der Telekom hat Ericsson unlängst ein privates 5G-Netz für den Leuchtmittelhersteller Osram aufgebaut. Sensible Produktionsdaten des Unternehmens zirkulieren heute nur noch auf dem Gelände der Fabrik – und natürlich in der Cloud des Unternehmens. Das sorgt für mehr Datensicherheit. Wenn ein Container die Fabrik verlässt, übernimmt das öffentliche Makronetz beispielsweise die Verbindung zu einem Sensor in dem Container. „Um solche privaten Netze aufzubauen, war viel neue Technologie notwendig“, erzählt Meyer-Kahlen. So helfen Virtualisierungstechnologien dabei, solche 5G-Netze in viel kleinerem Maßstab umzusetzen. 

Eine neue Schlüsseltechnologie für die Netze der fünften Generation, die die Herzogenrather vorangebracht haben, ist das sogenannte Network-Slicing. Mit dieser Technik können Netzwerke quasi virtuell in Scheiben geschnitten werden. Die einzelnen Scheiben kann man verschiedenen Anwendungen zur Verfügung stellen. So lassen sich die Übertragungskanäle für Smartphone-Nutzer erstmals von kritischen Anwendungen trennen. Wird im sogenannten Mobile-Broadband-Slice der Smartphone-Nutzer die Kapazitätsgrenze erreicht, bleibt beispielsweise der Datenfluss für autonome Fahrzeuge auf der Straße davon unberührt. „Das eröffnet sehr viele Möglichkeiten, um diese Netze gleichzeitig für die unterschiedlichsten Anwendungsfälle einsetzen zu können.“

Europas größtes 5G-Forschungsnetz

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Foto: iStock/Fokusiert
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Aber zurück nach Aachen: Auf dem Campus Melaten haben die Mobilfunkexperten vom Eurolab just in diesen Tagen (Mai) zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT Europas größtes 5G-Forschungsnetz für die vernetzte Produktion an den Start gebracht. Meyer-Kahlen ist begeistert: „Wir werden hier mit vielen Firmen aus Deutschland, Europa, aber auch weltweit Forschung und Entwicklung betreiben.“ 

Das IPT forscht hier beispielsweise an neuen Engineering-Methoden zur Herstellung von Schaufelrädern, die in Flugzeugturbinen verbaut werden. Sie werden aus einem Stück gefräst. Ein Prozess, der bis zu 20 Stunden oder länger dauert. Im Nachgang muss in einem ebenfalls aufwendigen Prozess gemessen werden, ob das Werkstück den extrem hohen Anforderungen der Flugzeugindustrie genügt. „Mit 5G machen wir die Qualitätskontrolle hier im Prozess.“ Auf dem Werkstück, das in der Aachener Fräskammer in sechs Achsen rotiert, wird dazu ein Sensor angebracht. Er misst Vibrationen des Werkstücks und überträgt die Daten per Funk. Jedes Kabel wäre da sehr schnell durchgetrennt. Fängt das Werkzeug an zu vibrieren, kann der Fräsprozess innerhalb von Millisekunden nachjustiert werden. „Das schafft eine enorme Sichtbarkeit im laufenden Prozess, die diese Industrie bislang nie erreicht hatte“, so Meyer-Kahlen. 

Und natürlich sind die Herzogenrather im nahe gelegenen ATC – Aldenhoven Testing Center fürs autonome Fahren aktiv. Hier, rund 15 Kilometer von Herzogenrath entfernt, haben die RWTH Aachen und der Kreis Düren auf dem Gelände der ehemaligen Grube Emil Mayrisch eine riesige automobile Teststrecke aufgebaut, seit Neuestem inklusive Stadtkulissen. In so einem Set-up müssen sich Fahrzeuge untereinander vernetzen und mit der Verkehrsinfrastruktur und zentralen Datenbanken kommunizieren können. „Und das entwickeln wir mit.“ Einige Orte weiter entfernt geht es auch auf einer Teststrecke um den Schienenverkehr – und natürlich auch hier um autonome Transportsysteme. 

Im Eurolab denkt man schon weiter. „In den letzten zwölf Monaten hat die Datenkapazität, die wir durch Mobilfunknetze schicken, global um 70 Prozent zugenommen – in einem Jahr“, weiß Meyer-Kahlen. Der Datenhunger der Applikationen steige exponentiell. Um jedes Jahr 70 bis 80 Prozent mehr Daten zu transportieren, brauche es irgendwann auch neue Frequenzbänder. Geforscht wird deshalb am sogenannten Millimeterwellenbereich. Er soll die hochfrequente Datenübertragung mit Raten bis zu einigen Zehner-Gigabit pro Sekunde erlauben. 

Solche Datenraten würden beispielsweise für ultrahochauflösende Bilder bei Liveübertragungen gebraucht. „Da komme ich in Bereiche hinein, die sehr viel höher sind als das, was wir heute haben...“, so der Leiter des Eurolabs. Aber auch beim autonomen Fahren würden in sehr kurzer Zeit extrem hohe Datenraten gebraucht, um Fahrzeuge im Betrieb mit neuer Software zu betanken. „Das ist eine ganz neue Technologie, die noch im Forschungsstadium ist.“ 

Generell sei der Mobilfunk eine sehr dynamische Branche. „Die Technik ändert sich alle drei bis vier Jahre“, so der Forschungsleiter. Ständiges tagesaktuelles Lernen gehöre daher zum Programm. „Wir trainieren unsere Mitarbeiter sehr intensiv – mit virtualisierten Selbstlernprogrammen. Klassenraumtraining ist passé.“ 

Erfolgreich im Stifterverband: die RWTH

Wenn es um die Entwicklung von Innovationen geht, ist die RWTH Aachen immer ganz vorn mit dabei. Sie sticht vor allem bei internationalen Rankings hervor, aber auch der Stifterverband hat sie vielfach in seinen Wettbewerben und Förderprogrammen ausgezeichnet, nämlich insgesamt zwölf Mal seit den 1990er-Jahren. Damit ist die RWTH vor der TU München (elf Auszeichnungen) die erfolgreichste Hochschule im Stifterverbands-Exzellenzranking. Doch diese Erfolge fallen nicht vom Himmel. Was die Hochschule dafür tut, zeigt ein Beitrag des Deutschlandfunk in seiner Sendung "Campus & Karriere" vom 28. Mai 2020. 

Zugleich sind die wichtigsten Schnittstellen aller Produkte, die in Herzogenrath entstehen, hochgradig standardisiert. Nur deshalb ist es möglich, Mobilfunk international in allen Ländern mit den gleichen Geräten zu betreiben. Das gerate manchmal in Vergessenheit: „Die Fähigkeit, dass wir alle mit unseren Handys irgendwo auf der Welt aus dem Flieger steigen und Zugang zu dem lokalen Mobilfunknetz haben, ist ja eigentlich eine wahnsinnige Leistung dieser Standardisierung.“ Und schnell fügt Meyer-Kahlen hinzu: „Da gibt es keine andere Technologie, die das kann.“ Er muss es wissen, denn der Eurolab-Leiter ist jetzt seit mehr als 25 Jahren im Geschäft. 

„Überall verfügbarer Mobilfunk wird in Zukunft genauso wichtig sein wie Wasser und Heizung.“

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Jan-Peter Meyer-Kahlen (Foto: privat)
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Jan-Peter Meyer-Kahlen

Bei den Netzen der Zukunft will Ericsson jetzt noch stärker auf künstliche Intelligenz (KI) setzen. Sie soll dabei helfen, die immer komplexeren Mobilfunknetze, die gleichzeitig verschiedene Anwendungen umsetzen, auch immer flexibler zu konfigurieren. Werde für einen Wettkampf in einem Stadion für 48 Stunden eine Mobilfunkabdeckung gebraucht, die tagsüber Daten von vielen Sensoren überträgt, müsse da heute noch ein Operator hingehen und das manuell konfigurieren. In Zukunft werde sich das Netz automatisch auf diese Anforderungen ein- und 48 Stunden später wieder zurückstellen, ist Meyer-Kahlen überzeugt. Bei der Umsetzung sollen den Herzogenrathern Technologien aus dem Machine Learning helfen. Doch in die KI-Entwicklung selbst wollen die Schweden nicht einsteigen. „Die Basisalgorithmen kaufen wir zu.“

Wie es mit dem Mobilfunk in den nächsten Jahren weitergeht? Meyer-Kahlen rückt sein Headset zurecht und wagt noch einen Blick in die Zukunft. Mobilfunk sei schon heute eine Basistechnologie für das tägliche Leben und eine Vielzahl von neuen Geschäftsmodellen. „Facebook und das ganze Social-Media-Geschäft wären undenkbar ohne Mobilfunk“, weiß der Eurolab-Forscher. In Zukunft könne Mobilfunk dabei helfen, eine verbesserte Klimabilanz und ein umweltverträgliches Miteinander zu ermöglichen. „Man wird alles, was man vernetzen kann, vernetzen. Und es wird Vorteile und Mehrwerte geben, deshalb machen wir das.“ Beim Netzausbau gebe Deutschland gerade jetzt mächtig Gas. „Überall verfügbarer Mobilfunk wird in Zukunft genauso wichtig sein wie Wasser und Heizung“, weiß Meyer-Kahlen.  

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