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Innovation-Lost – wenn Lösungen keine Probleme finden

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Illustration: Julius Klemm
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Wie ambiguitätstolerant muss ich eigentlich noch werden? Viel zu lange werden massive Probleme verdrängt, vertagt, kleingeredet und die zunehmenden Mängel und Zumutungen mehr oder weniger effizient verwaltet. Da man das alles aber jetzt wirklich auch mal transformieren müsste, wirft man in Deutschland ganz gerne nach guter alter Benchmark-Manier den Blick über Bande (also Frank Thelen) in das glorreiche Silicon Valley – eine spritzige, agile Welt voller Flugtaxis, Blockchains und Metaversen. 

Doch ausgerechnet die prominentesten Protagonisten dieser „Silicon Bubble“ fallen momentan eher durch ausgeprägte Eskapismusfantasien auf als durch pragmatische Gegenwartslösungen. Mark Zuckerberg träumt von einem 24/7-Metaversum, in der wir die klobigen, vollgeschwitzten VR-Brillen im ranzigen Homeoffice gar nicht mehr absetzen müssen, vor allem nicht beim Shopping von virtuellen „Items“. Jeff Bezos düst kerosinbetankt in den Weltraum, einfach weil er es kann, genau wie Elon Musk, der sich aber auch schon zur Sicherheit alternativ unter die Erde gräbt. Peter Thiel hat offenbar von allem die Schnauze voll und will mit Privatstädten endlich eine unternehmerisch adäquate Struktur schaffen – ohne diese lästigen Auswüchse sozialliberaler Demokratien. Diese Träume der mittelalten weißen Männer färben leider auch ein wenig ab. Als „neuer heißer Scheiß“ werden von einigen Digitalexperten mittlerweile auch hierzulande sogenannte NFTs gehandelt, die in Zeiten einer globalen Klimakatastrophe unter unfassbarem Energieaufwand ja, welche drängenden Probleme denn jetzt eigentlich genau noch mal lösen sollen? 
 

Apropos Probleme. Machen wir einen ruppigen Schwenk in unsere Gegenwart. Meanwhile in good old Germany. Auf der A45 müssen demnächst alle 60 Brücken so schnell wie möglich abgerissen werden, weil deren lebensgefährlicher Kollaps droht. Bereits 2017 schätzte man den Sanierungsbedarf von deutschen Schulgebäuden auf 34 Milliarden Euro. 2020 hat sich der Sanierungsstau bereits auf 42 Milliarden Euro erhöht. Da sind so ein paar eingebaute Luftfilter wohl eher Peanuts dagegen. 

Rafael Laguna de la Vera und Thomas Ramge bringen diese beliebig fortsetzbare Sammlung an Diskrepanzen zwischen brennenden Alltagsproblemen und gehypten Scheinlösungen in ihrem Buch „Sprunginnovation“ mit folgender Aussage ganz wunderbar auf den Punkt: „Die Scheininnovatorinnen und -innovatoren reden von Hyperloops und Künstlicher Superintelligenz, während im Hier und Jetzt die Straßen und Schienen marode werden und Brücken mitunter zusammenbrechen.“

Doch damit nicht genug. Selbst wenn wir uns endlich mal darauf fokussieren könnten, die drängendsten Probleme der Gegenwart klar zu identifizieren, zu priorisieren und orchestriert anzugehen, bleibt immer noch die Frage: Wer nimmt am Ende eigentlich die Schaufel in die Hand? Allein die Klimakrise zwingt uns, die lang hinausgezögerte Energiewende von heute auf morgen Wirklichkeit werden zu lassen. Dafür schätzt man in Deutschland einen Bedarf von 800.000 (re)qualifizierten Fachkräften

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Patrick Breitenbach (Illustration: Irene Sackmann)
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Die Vernetzung der Dinge

Die Vernetzung der Dinge heißt Patrick Breitenbachs regelmäßige Kolumne über Innovation, Digitalisierung und Wandel. Breitenbach ist derzeit Senior Manager Corporate Learning bei Bayernwerk und entwickelt dort Konzepte, Strategien und Formate zum Thema Lernen und unterstützt das Unternehmen im digitalen und nachhaltigen Wandel. Als gelernter Mediendesigner und langjähriger Podcaster beschäftigt er sich seit vielen Jahren autodidaktisch mit der soziologischen, ökonomischen, politischen, philosophischen, pädagogischen und kulturellen Perspektive der Digitalisierung.

Patrick Breitenbach auf Twitter und LinkedIn
Alle Kolumnen von Patrick Breitenbach. 

„Haben Sie in letzter Zeit schon mal versucht, einen Handwerker für Ihr kaputtes Dach zu bekommen?“

Patrick Breitenbach
Senior Manager Corporate Learning bei Bayernwerk

Danke, Boomer!

Nicht zu vergessen die 5 Millionen Menschen, die allein durch den jahrzehntelang bekannten und ebenfalls verdrängten demografischen Wandel sowieso schon fehlen. Danke, Boomer! Und Grüße gehen raus an unser bisheriges Bildungs-, Arbeits- und Sozialsystem, welches seit Jahrzehnten den Menschen vermittelt, dass eine akademische Laufbahn am Ende nicht nur mehr Gehalt, sondern auch weitaus mehr gesellschaftliche Anerkennung liefert – einmaliges kollektives Klatschen für die Pflegekräfte mal ausgenommen. Aber haben Sie in letzter Zeit schon mal versucht, einen Handwerker oder eine Handwerkerin für Ihr kaputtes Dach zu bekommen?

Seit ich gelesen habe, dass NRW für 66.000 Euro einen zugegebenermaßen schicken, drahtigen Roboterhund für die hiesige Polizei gekauft hat, ohne aber zu wissen, wofür sie ihn eigentlich konkret einsetzen wollen, beschreibe ich diesen merkwürdigen Zustand von nun an als „Innovation-Lost“ – hier werden Lösungen entwickelt, zu denen noch keinerlei Problem formuliert wurde, während etliche konkrete Probleme keine Lösung finden.

 

Virtuelle Welten helfen nur bedingt, wenn Infrastruktur verrottet. Am Ende muss jemand die Schaufel in die Hand nehmen.
Baustelle mit Bauarbeiter und VR-Brille
Illustration: Julius Klemm
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Vielleicht ist es also im ersten Schritt angebracht, unsere Einstellung in Sachen Innovation zu überdenken. Vielleicht hat uns die bunte Silicon-Valley-Mischung aus radikaler Disruption und der Digitalisierung allen Seins vom eigentlich wichtigen Pfad des menschlichen Fortschritts abgebracht? Richtig bewusst wurde mir das neulich erst wieder nach einem längeren Podcastgespräch mit Bjoern Eichstaedt zu der Frage: Wie können wir von Japan lernen? Bjoern befasst sich seit sehr vielen Jahren privat und beruflich mit der japanischen Kultur und schilderte in zahlreichen interessanten Beispielen einen in Japan völlig anders gelebten Ansatz der Innovations- und Produktentwicklung. Dem ein oder anderen ist diese Haltung vielleicht noch unter dem Begriff „Kaizen“, also die „Veränderung zum Besseren“ bekannt. Lange Zeit galt Japan auch in Deutschland als vorbildliches innovatives Technologieland. Das ist es trotz so mancher wirtschaftlicher Probleme vermutlich immer noch, jedoch wirkt deren kontinuierliche Verbesserungsstrategie im Schatten des disruptiven Silicon Valleys halt eher blass und behäbig. Und das, obwohl Japan bereits in den 1980er-Jahren das Problem eines drohenden demografischen Wandels erfolgreich erkannt, analysiert und kulturell antizipiert hat. So entstand vor über 40 Jahren eine langfristige und konsequente Robotik-Strategie, die bis heute – für alle gesellschaftlichen Bereiche konsequent und mit langem Atem  – von Politik und Wirtschaft gleichermaßen vorangetrieben wird. Und genau das ist der springende Punkt. Das Interessante ist nicht, sich bloß anzuschauen, was die Japaner konkret tun, sondern wie sie an die kleinen und großen Probleme der Gesellschaft metasystemisch herangehen. Niels Meinke von Mitsubishi Electric Deutschland beschreibt die japanische Haltung wie folgt:

„In Japan kreisen die Gedanken auch in Technologiefragen zentral um Universalität und den menschlichen Nutzer. Dies bedeutet gleichzeitig, dass sowohl in industriellen Anwendungen die Nutzung von unterschiedlichen Arbeitskräften gleich gut ermöglicht werden soll als auch in häuslichen Anwendungen ein möglichst universeller Zugang vom Kind bis zur Großmutter angestrebt wird. Dies reicht oft vom Design und Interface bis zur Funktion der tatsächlichen Anwendung – einschließlich einer digitalen Automatisierung mit dem Menschen im Fokus. Dieser technologische Humanismus bedeutet, dass der Mensch immer Teil der Rechnung ist und ein positiver Einsatz von Technologie für gesellschaftlichen Mehrwert das Ziel ist. Japans große gesellschaftliche Zukunftsvision, die Society 5.0, spiegelt dies konkret wider und der Mensch steht grundsätzlich im Zentrum der digitalen Transformation zur Lösung konkreter Herausforderungen.“

Der Mensch und seine Bedürfnisse stehen also im Zentrum jeder Vision – wobei man fairerweise sagen muss, dass es im japanischen Verständnis in erster Linie auch japanische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind, die im Zentrum ihrer Vision stehen –, aber selbst das ist im Vergleich zu Deutschland oder gar zum Silicon Valley für mich immer noch ein gewaltiger Vorsprung.
 

„Derartige infrastrukturelle Zumutungen, wie wir sie gerade hierzulande erleben und vor allem akzeptieren, sind den Japanerinnen und Japanern komplett fremd.“

Patrick Breitenbach
MERTON-Kolumnist

Konkrete Zwecke der japanischen Innovationskultur

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Derartige infrastrukturelle Zumutungen, wie wir sie gerade hierzulande erleben und vor allem akzeptieren, sind den Japanerinnen und Japanern komplett fremd. Und was wir als technischen Spielkram aus Fernost belächeln, ist für die japanische Innovationskultur stets mit einem unmittelbaren und konkreten Zweck verbunden, nämlich der kontinuierlichen Verbesserung der Lebensumstände im eigenen Kollektiv. Daher möchte ich der „Innovation Community“ in Deutschland dringend ans Herz legen, mal das eigene Wertegerüst und die derzeitigen Vorbilder kritisch zu hinterfragen. Vielleicht gelingt es sogar, daraus einen neuen Mittelweg zu entwickeln, der die Vorzüge beider Innovationsansätze vereint und die jeweiligen Schwächen ausklammert. Man nehme einerseits den japanischen Fokus auf das Wesentliche, also konkrete Alltagsprobleme von Menschen zu lösen und diese auch beständig weiter zu optimieren. Auf der anderen Seite könnte man die Radikalität und Geschwindigkeit eines Silicon Valley dazu nutzen, mit gewissen Praktiken konsequent aufzuhören, um ganz neue Lösungen zu entwickeln – solange die kreative Zerstörungslust von einem technologischen Humanismus gebändigt wird. Ich glaube, für diese Art zu denken gibt es mittlerweile sogar einen Fachbegriff: Ambidextrie.

Für mich steht also nicht „entweder Silicon Valley oder Japan“ zur Diskussion, sondern die Frage, wie wir aus beiden Innovationskulturen eine neue Strategie und einen Rahmen ableiten, um die wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft in unserem eigenen Möglichkeitsraum bestmöglich zu meistern. Wie können wir einerseits in großen Zusammenhängen denken und andererseits in kleinen Schritten konkrete Lösungen gemeinsam (!) entwickeln? Wie können wir möglichst viele Menschen dafür begeistern, ein Teil dieser Bewegung zu werden und die scheinbar eigene entfremdete Arbeit wieder mit Sinn und Verstand zu füllen, eben weil man gemeinsam ihr Leben nachhaltig verbessert? Einen „Purpose“ muss man übrigens nur dann in mehrtägigen Workshops erarbeiten, wenn man gar nicht mehr weiß, wozu man morgens eigentlich aufsteht. Dabei liegt der „Purpose“, wie oben ausführlich beschrieben, augenscheinlich auf unseren Straßen. Heben wir ihn doch endlich auf!

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