Innovationssystem

„China wird massiv in Umwelttechnologien investieren“

Verstopfte Straßen in Peking (Foto: iStock/Wenjie Dong)
Verstopfte Straßen in Peking (Foto: iStock/Wenjie Dong)
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Digitalisierung und Elektromobilität verändern die Autobranche radikal. Warum investiert Volkswagen gerade jetzt in eine in die Vergangenheit blickende Geschichtsprofessur? 
Gerhard Prätorius: Seit 40 Jahren sind wir in China so stark involviert, dass wir dort eine eigene Geschichte haben, und das Land wird immer wichtiger. Deshalb wollen wir Zukunftstechnologien, Märkte und Kooperationen in einem historisch-kulturellen Kontext verstehen, der bisher nicht im Fokus der Automobilindustrie stand. Wir müssen unsere Mitarbeiter noch besser auf die Arbeit in und mit China vorbereiten.

Im Gespräch: Dominic Sachsenmaier (Professor für „Modernes China mit Schwerpunkt auf globalhistorischen Perspektiven“ an der Universität Göttingen) und Gerhard Prätorius (Leiter Nachhaltigkeit der Volkswagen AG)
Dominic Sachsenmaier im Gespräch mit Gerhard Prätorius (Foto: Daniel Hofer)
Dominic Sachsenmaier im Gespräch mit Gerhard Prätorius (Foto: Daniel Hofer)
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Wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus?
Gerhard Prätorius: Göttinger Studierende machen Praktika bei uns und schreiben Masterarbeiten, sodass wir neue Erkenntnisse nutzen und Forschungsimpulse setzen können. Herr Sachsenmaier oder seine Kollegen halten Vorträge und besuchen mit chinesischen Delegationen das Werk.
Dominic Sachsenmaier: Beispielsweise habe ich vor dem „China Board“ der Volkswagen AG über die Vergangenheit und Zukunft chinesischer Städte gesprochen. Es gibt aber keine strukturelle Arbeitsbeziehung, der Lehrstuhl ist unabhängig und von der Universität Göttingen auf Lebenszeit eingerichtet.
Gerhard Prätorius: Aus überlebensnotwendigem Eigeninteresse muss eine Hochschule aufpassen, dass Forschung und Lehre unabhängig bleiben. Alles andere würde den Gedanken für alle Seiten beschädigen. Stiftungsprofessuren ermöglichen es, das Profil eines Fachbereichs schneller zu entwickeln.
Dominic Sachsenmaier: Sie helfen den Hochschulen beim nötigen Strukturwandel. Bis vor zehn Jahren war die Göttinger Sinologie klein. Heute haben wir vier große Lehrstühle mit 20 Mitarbeitern und 400 Studierenden. Jeder einzelne Lehrstuhl wurde gestiftet.

Vor nicht allzu langer Zeit galt die Sinologie noch als Orchideenfach.
Dominic Sachsenmaier: Vor 30 Jahren hatten die Wirtschafts- und Politikwissenschaften kaum Interesse an China. Im vergangenen Jahrzehnt hat man entdeckt, dass man volkswirtschaftlich orientierte Forschung, globale Politikwissenschaften und kulturübergreifende Soziologie kaum ernsthaft ohne fundierte Chinakenntnisse betreiben kann. Das führte zu zwei Entwicklungen: Die Chinaforschung verließ ihre Nische und steht unter anderem in Göttingen an der Schwelle zum großen Fach. Daneben richten auch andere Fachwissenschaften Lehrstühle mit Chinakompetenz ein.

Sie bezeichnen sich als Globalhistoriker, was ist damit gemeint?
Dominic Sachsenmaier: Die Globalgeschichte blickt auf die Vernetzungen zwischen Weltregionen und baut Brücken zwischen der China-, Indien- oder Europaforschung. Nur so können wir Phänomene wie Migration, Religion, wirtschaftliche Entwicklungsmuster und Umverteilungsprozesse verstehen. Sie ist eines der Innovationszentren der Geschichtsschreibung geworden – mit großer Relevanz für die Gegenwart. Viele Historiker müssen sich künftig mit mehreren Weltregionen gleichzeitig beschäftigen und entsprechende sprachliche Kompetenzen erlangen. Darüber hinaus sollten wir in Verbünden arbeiten, denn alleine kann man diese Ziele nicht erreichen.

Wird das deutsche Bildungssystem der neuen Bedeutung Chinas gerecht?
Dominic Sachsenmaier: In Universitäten und Unternehmen leben wir gedanklich noch in einer Struktur, die in westlicher Dominanz gründet. Bildungsnahe Schichten im Westen müssen sich nicht mit China oder Indien beschäftigen, um Karriere zu machen. Bildungspolitisch sind wir immer noch das Reich der Mitte und China ist ein bisschen aus der Mitte gerückt. 

Sind Chinesen also besser für die Globalisierung gerüstet?
Dominic Sachsenmaier: Pauschal kann man dies nicht beantworten. Allerdings sind, bedingt durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, chinesische Schüler enger mit dem Westen vertraut als umgekehrt. Sie lernen viele Facetten interkulturellen Bewusstseins von Kindheit an, im Bildungssystem, aber auch in anderen Foren, einschließlich der Popkultur. Von der jüngeren Entwicklung im chinesischen Bildungssystem, der politischen Gängelung und Betonung nationaler Werte, bin ich allerdings enttäuscht. Diese könnte sich durch eine wirtschaftliche Krise noch verschärfen.

 Dominic Sachsenmaier (Foto: Daniel Hofer)
Dominic Sachsenmaier (Foto: Daniel Hofer)
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Der Volkswagen-Konzern hat im vergangenen Jahr vier Millionen Autos in China abgesetzt, das sind 40 Prozent aller verkauften Wagen. Ist diese Abhängigkeit nicht riskant?
Gerhard Prätorius: Unabhängig von möglichen kurzfristigen wirtschaftlichen Irritationen bietet der chinesische Markt noch immer unglaubliche Perspektiven. Absatz- und Markterwartung bleiben positiv und ein zentrales Standbein für uns.

Konzernchef Matthias Müller nennt China die zweite Heimat des Konzerns und möchte VW noch chinesischer machen.
Gerhard Prätorius: Die Entwicklung in China verlief rasend schnell. In den Siebzigerjahren haben wir mit Modellen und Produktionsanlagen angefangen, die in Europa eher am Ende ihres Lebenszyklus waren. Heute entwickeln wir für den chinesischen Markt eigene Modelle mit neuester Technologie, haben ein Future Lab in Shanghai.

Gerhard Prätorius (Foto: Daniel Hofer)
Gerhard Prätorius (Foto: Daniel Hofer)
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Hat das Bild von Volkswagen in China durch den Abgasskandal Kratzer bekommen?
Dominic Sachsenmaier: In der chinesischen Öffentlichkeit gibt es wohl kein beliebteres Land als Deutschland. „Made in Germany“ steht für Qualität, davon profitieren auch deutsche Autobauer wie VW. Der Abgasskandal spielte in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle.
Gerhard Prätorius: Das deckt sich mit unserer Einschätzung: In China hat das auch deshalb keine Rolle gespielt, weil es kaum Dieselfahrzeuge gibt.

„In Universitäten und Unternehmen leben wir gedanklich noch in einer Struktur, die in westlicher Dominanz gründet.“

Dominic Sachsenmaier (Foto: Daniel Hofer)
Dominic Sachsenmaier (Foto: Daniel Hofer)
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Dominic Sachsenmaier

Im Zeitraffer ist China vom ökonomischen Zwerg zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gewachsen. Das ging zulasten der Umwelt. Ist der Fokus auf E-Mobilität ein erster Schritt zum Umdenken?
Gerhard Prätorius: Die extreme Luftverschmutzung in den Megacities zwingt die Regierung zum Handeln. Die Hinwendung zur Elektromobilität ist ein ökologisch erwünschter Strukturwandel. Doch wirkliche Klimaentlastung gibt es erst, wenn die gesamte energetische Kette ausgeglichen wird. Das setzt in China noch große Veränderungen voraus, da die Primärenergie zurzeit vor allem aus der Kohle kommt.
Dominic Sachsenmaier: Der Änderungswille in China wird oft unterschätzt – es wurden in den vergangenen Jahrzehnten viele politische, soziale und wirtschaftliche Experimente gestartet, oftmals mit überraschenden Richtungswechseln. Es gibt kaum Anlass, daran zu zweifeln, dass China massiv in Umwelttechnologien investieren wird. Der Fokus auf diesem Sektor einschließlich der E-Mobilität, bei dem alle am Anfang stehen, ist nicht nur umweltpolitisch motiviert. Auch wirtschaftsnationalistische Ziele sind hiermit verbunden.

Wie entscheidend war Chinas Masterplan „China 2025“ für die VW-Zukunftsstrategie „Together 2025“?
Gerhard Prätorius: Mit der Konzernstrategie „Together 2025“ beschreiben wir die Transformation unseres Kerngeschäfts – den Technologiewandel zur Elektromobilität – und die Innovationsziele der nächsten zehn Jahre. Unser Geschäftsmodell endet nicht damit, dass wir Autos auf den Markt bringen; wir wollen Mobilität nachhaltig organisieren und Mobilitätsdienste anbieten. Dieser Schritt löst intensive Veränderungen aus. Wir müssen in die Welt gehen, Future Labs aufbauen und andere Formen der Arbeitsorganisation finden. Der Abgasskandal hat diese Prozesse beschleunigt. Auch China ist ein starker Motor der Veränderungen. Im Juni haben wir dort unser drittes Joint Venture für Elektroautos gegründet.

„Wir müssen unsere Mitarbeiter noch besser auf die Arbeit in und mit China vorbereiten.“

Gerhard Prätorius (Foto: Daniel Hofer)
Gerhard Prätorius (Foto: Daniel Hofer)
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Gerhard Prätorius

Die Europäische Handelskammer in China klagt über erschwerten Marktzugang sowie die Bevorzugung chinesischer Unternehmen in einigen Bereichen. Ist die Automobilbranche ausgenommen? 
Dominic Sachsenmaier: In gewissen Sektoren verlassen internationale Unternehmen gerade sogar den chinesischen Markt. Das wird aber nicht mit der Automobilindustrie geschehen. Doch die Spielregeln ändern sich.

Wie können sich Unternehmen darauf vorbereiten?
Dominic Sachsenmaier: Chinesische Unternehmen sind eng mit Politik und anderen gesellschaftlichen Kräften vernetzt, es läuft nicht alles nach den Prinzipien der Marktwirtschaft, wie man sie aus dem Westen kennt, ab. Die Zeiten, in denen man als internationales Unternehmen aufgrund seines technologischen Vorsprungs eine Ausnahmestellung hatte, sind vorbei. Nun muss man sich in China noch stärker als Teil des komplexen Netzwerks aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft begreifen.

„Chinaforschung 2025“ – wie sieht Ihr Bereich in acht Jahren aus?
Dominic Sachsenmaier: Die chinabezogene Forschung aller Fächer wird die langen und vielfältigen Interaktionen zwischen China und anderen Weltregionen verstärkt ins Blickfeld nehmen. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass die Universität wieder ihre Funktion als Forum wahrnimmt und kritische Dialoge ermöglicht, indem sie verschiedene Kräfte der Gesellschaft zusammenführt.
Gerhard Prätorius: Stiftungsprofessuren könnten bei dieser neuen Form des Dialogs kleine Mosaiksteinchen sein. Neben der Kooperation mit den Geisteswissenschaften in Göttingen ist VW eng mit der TU Braunschweig verbunden. Daraus könnte eine Dreiecksbeziehung entstehen. Wir sollten Fach- und Hochschulprofilgrenzen überwinden und zu neuen Formen der Kooperation kommen.

Dominic Sachsenmaier ist Professor für „Modernes China mit Schwerpunkt auf globalhistorischen Perspektiven“ an der Georg-August-Universität Göttingen. Der Historiker und Sinologe untersucht Austauschprozesse zwischen China und der Welt sowie die Rolle Chinas in der Globalisierung. Er forscht über Chinas Geistes-, Gesellschafts- und Politikgeschichte vom 17. Jahrhundert bis heute. Die Professur wurde 2015 von Volkswagen gestiftet, das Fördervolumen beträgt jährlich 300.000 Euro für maximal acht Jahre. Im Anschluss an die Förderung soll die Professur von der Universität weitergeführt werden. 
Gerhard Prätorius verantwortet das Thema Nachhaltigkeit im Volkswagen-Konzern und lehrt als Honorarprofessor an der Technischen Universität Braunschweig im Bereich „Verkehrsökonomie und Verkehrspolitik“.

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