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„Nehmen wir an, ich will meinen reichen Erbonkel umbringen …“

Erasmus Mayr (Foto: FAU/Georg Pöhlein)
Erasmus Mayr (Foto: FAU/Georg Pöhlein)
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Sobald Erasmus Mayr in die Praxis eintaucht, wird es abenteuerlich. „Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel“, ruft er und schweigt einige Sekunden lang, um sich etwas auszudenken. Gerade sind seine kleinen Kinder erkältet, also baut er die Krankheit mit ein in seine Geschichte: „Nehmen wir an, Sie transportieren jemanden auf der offenen Ladefläche Ihres Lastwagens, was ja a priori verboten ist. Weil’s Herbst ist, erkältet er sich. Sind Sie jetzt für diese Erkältung verantwortlich?“

Erasmus Mayr schaut sein Gegenüber nach solchen Fragen herausfordernd an. Schnell wird ein Gespräch mit ihm zu einer Einführung in die Philosophie, in die Gedankenwelten, in denen er sich üblicherweise bewegt. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg lehrt Mayr, und wenn er seine Beispiele ausbreitet, dann merkt man schnell, dass der 42-Jährige nicht nur Philosoph ist, sondern auch Jurist. „Bemerkenswert ist“, sagt er, „dass die Rechtswissenschaft auf diese Fragen oft eine andere Antwort gibt als die Philosophie.“ Dass es ihm gelingt, beide Denkschulen zu verbinden und die Ansätze kunstvoll miteinander zu verzwirbeln, macht ihn zu einer Ausnahmeerscheinung unter den zeitgenössischen Philosophen.

Dass er Philosoph werden will, wusste Erasmus Mayr schon seit seinem Abitur in München. „Ich gehörte zum ersten Jahrgang eines Reformstudiengangs an der Münchner Universität“, erinnert er sich: Keine Hausarbeiten sollten seine Kommilitoninnen und Kommilitonen und er schreiben, sondern Essays, alle zwei Wochen einen. Gleich als neu eingeschriebener Student bekam er die erste Aufgabe, es ging um David Hume und seinen Satz, Vernunft eigne sich nicht zur Begründung der Moral. „Das war eine tolle Schule“, sagt Mayr im Rückblick. Sich schnell einarbeiten in ein Thema, die Gedanken sortieren, schreiben, dann ein detailliertes Feedback vom Dozenten oder von der Dozentin – und schon ging’s weiter mit dem nächsten Essay. Nur einen Nachteil hatte das Studium in den Augen des ambitionierten Studenten: Es waren keine Nebenfächer vorgesehen, dabei hätte Mayr gern auch in andere Welten hineingeschnuppert. Also hörte er sich auf eigene Faust Vorlesungen aus der Rechtsgeschichte an und war so fasziniert, dass er sich auch noch für ein Jurastudium einschrieb. Und wie der Zufall es wollte: Gerade, als er sich an der juristischen Fakultät mit dem Strafrecht auseinandersetzte, ging es in seinem Philosophiestudium um die Handlungsethik.

Der Preis

Der mit 100.000 Euro dotierte „Deutsche Preis für Philosophie und Sozialethik“ ist die höchstdotierte Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, die von einer privaten Stiftung in den Geisteswissenschaften verliehen wird. Er wird seit 2014 von der nach dem Hamburger Kaufmann Max Uwe Redler (1937-2006) benannten Max Uwe Redler Stiftung in Hamburg vergeben. Mit dem Preis soll nicht ein ganzes Lebenswerk gewürdigt, sondern ein herausragendes Werk oder eine begrenzte Anzahl herausragender Beiträge ausgezeichnet werden. Seit 2017 wird der Preis alle zwei Jahre verliehen.

„Es ist bemerkenswert, dass die Rechtswissenschaft oft eine andere Antwort gibt als die Philosophie.“

Erasmus Mayr (Foto: FAU/Georg Pöhlein)
Erasmus Mayr (Foto: FAU/Georg Pöhlein)
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Erasmus Mayr
Professor für Praktische Philosophie

Grundsätze der Handlungsethik

„Da tun sich ungemein spannende Fragen auf“, sagt er und setzt wieder seinen nachdenklichen Blick auf. „Nehmen wir an, ich will meinen reichen Erbonkel umbringen. Also überrede ich ihn zu einem Flug nach Australien in der Hoffnung, dass er unterwegs abstürzt. Er geht auf mein Zureden ein – und das Flugzeug stürzt tatsächlich ab. Rein juristisch bin ich nicht verantwortlich, weil ein solcher Absturz zum allgemeinen Lebensrisiko gehört.“ Die Philosophen aber sehen die Kausalität anders, schließlich wäre der Onkel ohne die Überredungskünste nie in das Flugzeug gestiegen.

Erasmus Mayr ist es nicht an oberflächlichen Beispielen gelegen, sondern an den höheren Prinzipien dahinter – an Prinzipien, die die Philosophie schon seit ihren Anfängen zu formulieren versucht. „Es geht darum, verschiedene Versatzstücke von unserem Selbst- und Weltverständnis miteinander in Einklang zu bringen – und diese Versatzstücke ändern sich im Laufe der Zeit. Unser Weltverständnis heute ist etwa durch die Fortschritte in den Naturwissenschaften völlig anders als vor der Neuzeit“, sagt Mayr. Die Kernfrage aber ist immer die gleiche in der Handlungstheorie: Ist der Mensch ein selbstbestimmter Akteur – oder ist er lediglich getrieben; eingezwängt in die Naturgesetze, die unerbittlich wirken? Hier kommt wieder die Rechtswissenschaft ins Spiel: Während das Verständnis von der Welt im Wesentlichen durch die Naturwissenschaften geprägt wird, spiegelt die Rechtswissenschaft sehr gut das Selbstverständnis des Menschen – mithin die zweite Komponente in den Abwägungen.

Bereits mit 30 Jahren veröffentlichte Erasmus Mayr ein Buch, in dem er genau dieses Spannungsfeld zum Thema macht und das bis heute Standards setzt: „Understanding Human Agency“ ist es überschrieben, und Mayr versucht darin, drei Thesen zum menschlichen Selbstbild in Einklang zu bringen, die bislang oft als widersprüchlich galten. Erstens: Dem Menschen stößt nicht nur etwas zu, er handelt aktiv. Zweitens: Der Mensch ist Teil der Natur, seine Handlungen müssen deshalb in der Natur verortet sein. Und drittens: Die menschlichen Handlungen sind intentional erklärbar.

Jury lobt ungewöhnlichen Zugang zum Fach und Originalität der Gedankenführung

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Susanne Hahn
Susanne Hahn (Foto: Henning Ross)
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2017 ging der Deutschen Preis für Philosophie und Sozialethik der Max Uwe Redler Stiftung an die Philosophin Susanne Hahn. MERTON sprach mit der Preisträgerin über die Komplexität des philosophischen Rationalitätskonzeptes und die Essenz ihres Werkes.

Für seine Theorieentwicklung macht er sich dabei eine philosophische Schule zunutze, die seit rund zwei Jahrzehnten an Einfluss gewinnt: „Darin geht es darum, den Begriff des Vermögens, der Disposition wieder ernst zu nehmen“, sagt er und zieht die Parallele zu einem geladenen Teilchen in der Physik: „Die Ladung ist wie ein Vermögen dieses Teilchens; eine Eigenschaft, mit der es etwas machen kann.“ Erasmus Mayr überträgt das auf die Debatte zum freien Willen beim Menschen: Lässt sich aus diesem Vermögensbegriff etwas ableiten, um das menschliche Handeln in das Bild der Welt einzuordnen? Dieser ungewöhnliche Zugang zu seinen Gegenständen ist es, der die Jury des Deutschen Preises für Philosophie und Sozialethik 2021 von Erasmus Mayr als Preisträger überzeugt hat: „An der Arbeit beeindrucken ihre synthetische Kraft, der entschlossene Problemzugriff, die Originalität der Gedankenführung und nicht zuletzt ihre historische Tiefenschärfe“, heißt es in der Begründung.

Komplexeste Themen verständlich machen

Zur Kunst von Mayr gehört es, über die denkbar komplexesten Themen auf jeder Bühne reden zu können: auf großen wissenschaftlichen Podien ebenso wie vor philosophischen Laien, denen er mit seiner markanten Gestik en passant einen gesamten universitären Grundkurs angedeihen lässt, gespickt mit seinen spontan improvisierten Beispielen und getragen von seinem leichten Münchner Akzent. „Der klingt manchmal noch durch“, sagt er und schiebt schmunzelnd hinterher: „Obwohl ich ihn ein bisschen zu verstecken versuche, damit ich hier in Franken nicht allzu sehr auffalle!“ Seinen doppelten akademischen Hintergrund in Philosophie und Jura hingegen versteckt er nicht, im Gegenteil – schließlich kann er davon besonders profitieren. So war das schon während des Studiums, auch wenn er manchen Kommilitonen und Kommilitoninnen sowie Professorinnen und Professoren mit seinen vermeintlich gegensätzlichen Interessensgebieten ein Rätsel aufgegeben hat. „Eigentlich hat das aber nie jemand groß thematisiert, weder in Philosophie noch in Jura“, sagt er. „Beide Seiten waren fest davon überzeugt, dass ich mich nach dem Studium schon zu ihrer Seite bekehren werde!“ 

Heute lacht er darüber, dabei war die Entscheidung damals gar keine einfache Sache: Er hat Jura immerhin mit dem zweiten Staatsexamen abgeschlossen und war während des Referendariats am Landgericht, Spezialgebiet Baurecht, im Landratsamt und in einer Anwaltskanzlei. „Nach dieser Phase, in der ich keine Zeit für die Philosophie hatte, habe ich mir einfach wieder eine Abwechslung gewünscht“, sagt er – und entschied sich deshalb ganz für die Philosophie. Mittlerweile weiß Erasmus Mayr allerdings, dass Jura einen großen Vorteil gehabt hätte: „Man kann die Sachen abarbeiten und nach getaner Arbeit einen Haken hinter sie machen.“ Er sagt es ein wenig wehmütig, denn er weiß, dass hinter den großen philosophischen Fragen schon seit Jahrhunderten niemand einen Haken machen konnte und auch er sie nicht abschließend klären wird. Aber eigentlich liegt ja gerade in dieser Unendlichkeit der Gedanken der große Zauber der Philosophie.

Erasmus Mayr (Foto: FAU/Georg Pöhlein)
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