Die Grundlagen des Lebens erforschen

Ein neuartiges Mikroskop für die schonende 3D-Abbildung lebender Zellen

Ausgezeichnet mit dem Deutschen Zukunftspreis 2022

 
Ein großer Teil des Wissens darüber, wie sich das Leben entwickelt hat,
wie seine biologischen Prozesse ineinandergreifen, wie Krankheiten entstehen und wie sie sich behandeln lassen, ist der modernen hochauflösenden Fluoreszenzmikroskopie zu verdanken. Sie basiert auf der Wechselwirkung von Laserlicht mit bestimmten Biomolekülen, denen sich dadurch detailreiche Informationen über organische Strukturen und deren Dynamik entlocken lassen. Doch die findige Methode hat auch einen großen Nachteil: Sie beeinflusst und schädigt die untersuchten Organismen – das schränkt ihre Anwendungsmöglichkeiten drastisch ein. Wie lässt sich dieses Dilemma auflösen?

Für den Deutschen Zukunftspreis 2022 nominiertes Team (Foto: Ansgar Pudenz/DZP)
Foto: Ansgar Pudenz/DZP
  • Dr. rer. nat. Thomas Kalkbrenner, Carl Zeiss Microscopy GmbH, Jena (Sprecher)
  • Dr. rer. nat. Jörg Siebenmorgen, Carl Zeiss Microscopy GmbH, Jena
  • Dipl.-Phys. Ralf Wolleschensky, Carl Zeiss Microscopy GmbH, Jena

 
Das Forscherteam
 hat ein neuartiges Mikroskop-System geschaffen, das völlig neue Perspektiven für die Forschung in Biologie, Medizin und Pharmakologie eröffnet, indem es die sogenannte Gitter-Lichtblatt-Mikroskopie mit einer Reihe innovativer optischer Techniken verknüpft. Dadurch werden empfindliche lebende Proben bei der mikroskopischen Untersuchung vor einer Schädigung durch das verwendete Laserlicht geschützt. Zugleich fanden die Nominierten einen Weg, um die komplexe Technik auf einfache Weise nutzbar zu machen. Das ermöglicht eine breite Palette bislang undenkbarer Anwendungen. Von der Innovation profitieren sowohl die biologische und biomedizinische Grundlagenforschung als auch die Suche nach neuen Ansätzen zur Diagnose oder Behandlung von Krankheiten.

Für den Deutschen Zukunftspreis 2022 nominiertes Projekt (Foto: Ansgar Pudenz/DZP)
Foto: Ansgar Pudenz/DZP

 
Die hochauflösende, dreidimensionale Bildgebung per Fluoreszenzmikroskopie hat bereits eine Menge zur Entschlüsselung der Geheimnisse des Lebens beigetragen. Bei dieser Methode wird eine organische Probe, etwa ein Verband menschlicher Körperzellen, zunächst mit einem Biomarker präpariert und anschließend mit Laserlicht einer bestimmten Wellenlänge bestrahlt. Das Licht regt die Biomarker-Moleküle zum Leuchten an: Es entsteht sogenanntes Fluoreszenzlicht. Aus seiner Verteilung lassen sich vielfältige Informationen über biologische Vorgänge auf winzigem Maßstab gewinnen, etwa im Inneren einer Zelle. Allerdings: Das Laserlicht, dem die biologische Probe ausgesetzt ist, kann sie schädigen – biologische Strukturen und Prozesse verändern sich oder werden gar zunichte gemacht. Die Forscher sprechen dabei von Phototoxizität. Sie kann zu einer falschen Interpretation der unter dem Mikroskop gewonnenen Aufnahmen führen. Untersuchungen lebender Systeme über einen längeren Zeitraum hinweg sind vielfach gar nicht möglich. Das setzt den Erkenntnissen, die sich durch die Fluoreszenzbildgebung gewinnen lassen, enge Grenzen. Hinzu kommt, dass dieses Limit umso rigoroser wirkt, je mehr Feinheiten man betrachten will.

Dieses Hemmnis hat das nominierte Team mit dem neu entwickelten System aus dem Weg geräumt. Dazu setzten die Nominierten zunächst auf die erst seit rund 15 Jahren bekannte Technologie der Lichtblatt-Mikroskopie, die für Modellorganismen aus der Entwicklungsbiologie verwendet wird: Dabei sind die Ebene, in der die Probe beleuchtet wird, und die Detektionsrichtung des Fluoreszenzlichts senkrecht zueinander orientiert. Es wird nur der Teil der Probe beleuchtet, der sich gerade im Fokus befindet, was die Strahlenbelastung des unter dem Mikroskop betrachteten Objekts erheblich reduziert. Die Gesetze der Optik verhindern jedoch die Übertragung dieser Technologie auf die Zellbiologie: Fokussiert man die klassischen Strahlen stärker, um sehr dünne Lichtblätter für subzelluläre Auflösung zu erreichen, werden die Strahlen auch kürzer und man hat gar kein Lichtblatt mehr. Es mussten also nichtklassische Strahlformen zum Einsatz kommen, die sehr dünne und zugleich lange Lichtblätter erlauben – die sogenannten Lattice Lightsheets oder GitterLichtblätter. Sie zu erzeugen ist jedoch sehr aufwändig, weshalb die Nominierten neue Konzepte für eine automatische Herstellung dieser Lichtblätter entwickelten.

Damit lassen sich hochaufgelöste mikroskopische Aufnahmen mit exzellenter Bildqualität erstellen – und das über mehrere Stunden oder gar Tage hinweg, ohne das untersuchte Objekt zu beeinträchtigen. So lassen sich selbst sehr feine Details innerhalb von Zellen untersuchen und Veränderungen verfolgen.

Für den Deutschen Zukunftspreis 2022 nominiertes Projekt (Foto: Ansgar Pudenz/DZP)
Foto: Ansgar Pudenz/DZP

Der breite Einsatz dieses Verfahrens erfordert aber noch eine weitere Innovation: Zellen werden in Gefäßen mit Glasböden kultiviert, beispielsweise in Petrischalen. Um sie in einem Lichtblattmikroskop verwenden zu können, müssen die Objektive schräg durch den Glasboden schauen – aufgrund der dabei auftretenden Bildfehler für ein herkömmliches hochauflösendes Mikroskop-Objektiv eine unlösbare Aufgabe. Daher entwickelte das Team eine einzigartige Mikroskop-Optik, die diese Bildfehler für beliebige Probengefäße korrigieren kann – selbst wenn deren Dicke variiert. Diese technologischen Innovationen wurden in ein kompaktes System integriert, welches sich in vorhandene Laborumgebungen einfügen und sich ohne spezielle Vorkenntnisse bedienen lässt.

Das ZEISS Lattice Lightsheet 7 wurde Ende 2020 am Markt eingeführt. 2021 wurde das System durch eine verbesserte und mit zusätzlichen – etwa für die Krebsforschung wichtigen – Funktionalitäten ausgestattete zweite Produktgeneration ergänzt. Es ist das bislang einzige kommerziell verfügbare System, dass eine dreidimensionale Bildgebung per Fluoreszenzmikroskopie an lebenden Proben mit sehr hoher Auflösung über Tage oder gar Wochen hinweg ermöglicht. Seine besonders einfache Handhabung prädestiniert das System für die Anwendung sowohl für den Einsatz in Labors an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen als auch bei Unternehmen, etwa aus der Pharmaindustrie. Die auf Basis der Innovation zu erwartenden neuen Erkenntnisse lassen unter anderem auf eine schnellere und zielgerichtetere Entwicklung neuer medizinischer Wirkstoffe hoffen.

Wegen der Konkurrenzlosigkeit der neuen Technologie geht ZEISS davon aus, einen großen Teil des relevanten Marktes erreichen zu können. Und das Potenzial für die neuartige Technik könnte künftig noch deutlich wachsen. Hintergrund ist die Forschung an sogenannten Organoiden: aus Stammzellen gezüchteten Zellverbänden, die ähnliche Eigenschaften haben wie menschliche Organe. Daran lassen sich Funktion und Erkrankungen beispielsweise von Leber, Niere oder Gehirn auf eine neue Art – und ohne Tierversuche – erforschen. Auch die Suche nach pharmakologischen Wirkstoffen erhält dadurch neue Perspektiven. Das ZEISS Lattice Lightsheet 7 kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Hinzu kommt ein weitreichender – und finanziell kaum zu beziffernder – Nutzen für Gesellschaft und Gesundheitssystem, indem neue Diagnosemöglichkeiten für viele Krankheiten geschaffen werden.